Editorial #5/23

27. Oktober 2023

Bildungsgerechtigkeit — Studieren kostet viel Zeit, Arbeit und Durchhaltevermögen. Der Druck auf uns Studis nimmt stetig zu, die Anforderungen sind hoch, alle müssen sich anstrengen, um die akademischen Abschlüsse zu erreichen. Doch es gibt wichtige Unterschiede unter den Studierenden, die viele nicht kennen. Denn wer viel leisten muss, vergisst unter Umständen die eigenen Privilegien zu
reflektieren.

Deswegen stellen wir in dieser Ausgabe die Frage nach dem Zugang zu den Hochschulen. Denn die Zahlen zeigen, dass es viel wahrscheinlicher ist, dass man studiert, wenn die Eltern das auch getan haben. In der Schweiz haben 23 Prozent der Studis mindestens einen Elternteil, der über einen Uniabschluss verfügt, an den Zürcher Hochschulen ist dies bei über der Hälfte aller Studierenden
der Fall.

«Bei der Bildung gibt es grosse Unterschiede je nach sozialer Herkunft», hat uns die Soziologin Benita Combet im Interview erzählt. Sie forscht an der Uni Zürich zu sozialen Ungleichheiten. Sie sagt, für Kinder aus sozial privilegierten Schichten, deren Eltern einen Uniabschluss haben, sei es massiv wahrscheinlicher, dass sie selber an die Uni gehen. Die Ungleichheit im Bildungssystem sei in der Schweiz viel grösser als in Skandinavien. Dies wegen der frühen Selektion, das sogenannte Tracking, das in diesen Ländern später stattfindet. «Während in der Schweiz schon in der 6. Klasse entschieden wird, ob man in einen Schultrack eintritt, der ein Universitätsstudium erlaubt, findet diese immanent wichtige Entscheidung in den meisten Ländern einiges später statt», sagt Combet.

Wer es trotz nicht-akademischen Elternhaus und frühem Tracking an die Uni schafft, hat es schwieriger als andere. Jana und Louis wissen, wie es ist, in bescheidenen Verhältnissen aufzuwachsen und nun als Erste ihrer Familie zu studieren – sie sind «First Generation Students». Beide betonen, dass sie immer viel arbeiten mussten, mehr als andere Mitstudierende, das mache müde und krank. Wir haben mit ihnen gesprochen und zeigen, mit welchen Problemen sie konfrontiert waren.

Für Studis wie sie gibt es in Deutschland seit 15 Jahren der Verein ArbeiterKind.de, der etwa an Schulen Kindern aus nicht-aklademischen Familien übers Studieren aufklärt und während des Studiums FirstGens begleitet. An der ETH und der Uni Zürich haben sich erst dieses Semester Studierende und Doktorierende zusammen­geschlossen und das First Generation Network Zürich
gegründet.

Ihr Engagement ist ausserordentlich lobenswert, doch es darf nicht dem freiwilligen Einsatz überlassen werden, dass FirstGen-Studis unterstützt werden. Die Unileitung und die Politik müssen Massnahmen ergreifen, damit alle, die es wollen und dazu imstande sind, studieren können. Denn viele Studis landen nicht an der Uni, weil sie besonders gute kognitive Fähigkeiten besitzen, sondern weil sie aus besonders guten Verhältnissen stammen – während anderen der Zugang zum Studium aufgrund ihrer sozialen Herkunft verwehrt bleibt. Das kann es nicht sein.

Die Politik müsste endlich für ein gerechteres Schulsystem sorgen. Dafür braucht es neben durchmischtere Schulklassen eine spätere Selektion. Jetzt dient etwa die Eintrittsprüfung fürs Gymnasium vor allem der sozialen und weniger einer kognitiven Selektion. Diese falsche Selektion abzuschaffen sollte auch im Interesse Liberaler sein, denn so landen auch diejenigen an der Uni, die kognitiv gesehen am besten dorthin passen. Die Politik muss auch dafür sorgen, dass Studierende während des Studiums genügend Unterstützung erhalten. Der Zugang zu Stipendien müsste in der Schweiz vereinheitlicht und massiv vereinfacht werden. Stattdessen hat etwa das Stipendienamt unter Bildungsdirektorin Silvia Steiner mit unmöglich langen Bearbeitungszeiten für Stipendiengesuche in den letzten paar Jahren auf ganzer Linie versagt – und das vom Kantonsrat gesetzte Ziel einer Bearbeitungsdauer von
50 Tagen pro Gesuch wurde immer noch nicht erreicht.

Nun wurde für die nächsten vier Jahre eine neue Bundesversammlung gewählt. Das neue Parlament soll die massive Ungleichheit im Bildungsbereich endlich angehen. Die Lösungen liegen auf dem Tisch, es gilt sie nur noch umzusetzen.