«Späteres Tracking, wie in den skandinavischen Ländern, ist immer sinnvoll»: Benita Combet im Ssoziologischen Institut der Uni Zürich..

«Die Gymiprüfung dient vor allem der sozialen Selektion»

Auch bei gleichen Noten gehen priviligierte Schüler*innen eher an die Uni als andere junge Menschen. Soziologin Benita Combet erforscht, wie die Ungleichheit entsteht und erklärt, was für ein Schulsystem besser wäre.

Carlo Mariani (Interview) und Lucie Reisinger (Interview und Foto)
27. Oktober 2023

Frau Combet, waren ihre Eltern auch Akademiker*innen, dass Sie nun als Soziologin an der Uni arbeiten können?

Mein Vater hat zwar nach Abschluss einer Lehre in den USA studiert, aber ich habe aufgrund einer schweren Erkrankung meines Vaters wenig Unterstützung von zuhause erfahren. Vorteilhaft war sicherlich, dass meinen Eltern Bildung immer wichtig war. Ich habe früh gelernt zu lesen, meine Eltern haben mir immer Bücher gekauft und sie wollten auch, dass ich studiere.

Warum haben Sie sich entschiedenzu studieren?

Nach dem Gymnasium ist das der offensichtlichste nächste Schritt. Ursprünglich wollte ich Medizin studieren, hatte aber das Gefühl, ich sei zu dumm dafür. 9/11 hat dann mein Interesse für Religions- und Islamwissenschaften geweckt, weshalb ich mich dann für die Fächer eingeschrieben habe, später wechselte ich zu Soziologie. Als Studentin habe ich gemerkt, dass mir trotz einer eher fragwürdigen Gymnasiumkarriere das Studieren doch sehr liegt.

Worauf kommt es in der Erziehung an, dass man mal studieren wird?

Die elterliche Unterstützung ist sehr wichtig. Diese beeinflusst zum einen die schulischen Fähigkeiten und insbesondere die sprachlichen Fähigkeiten wie Textverständnis, die grundlegend für gute Noten sind. Sie erinnern sich bestimmt an die komplizierten Textaufgaben in Mathe: Man muss zuerst den Inhalt verstehen, um die Matheaufgabe zu lösen! Zum anderen muss man sich gegen eine Lehre entscheiden – in der Schweiz immer noch der Bildungsweg, den die meisten Jugendlichen gehen und der gerade für Personen aus ärmeren Verhältnissen einige Vorteile mit sich bringt: Man verdient schneller Geld und der Arbeitsmarkteintritt ist mit weniger Unsicherheit verknüpft, da man ein spezifisches Profil hat, das von Firmen gesucht wird.

Welchen Einfluss hat das Elternhaus sonst noch?

Kinder lernen auch viele vorteilhafte Umgangsformen von den Eltern. So zum Beispiel: Wie kommuniziert man mit Lehrer*innen, dass man vom Unterricht möglichst viel profitiert? Welche Themen sind im Unterricht relevant – der letzte Fussballmatch oder doch eher die aktuelle politische Lage?

Wie steht es um die Chancengleichheit im Bildungssystem? Können in der Schweiz alle werden, was sie wollen?

Rein theoretisch ist dies definitiv der Fall. Doch faktisch sieht es anders aus: Bei der Bildung gibt es grosse Unterschiede je nach sozialer Herkunft.

Inwiefern?

Für Kinder aus sozial privilegierten Schichten, deren Eltern einen Uniabschluss haben, ist es massiv wahrscheinlicher, dass sie selber
an die Uni gehen. In meinem Artikel von 2021 zeigt sich etwa für die Jahrgänge 1984 und 1985, dass Personen, deren Eltern aus dem höchsten Quartil des sozio-ökonomischen Index stammen, eine um 20 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit haben, eine Universität zu besuchen, als Kinder aus dem tiefsten Quartil. Dabei vergleichen wir Kinder, die den gleichen Schultrack besuchten (also etwa Langzeitgymnasium oder Sekundarschule), die gleichen Schulnoten und den gleichen PISA-Testscore hatten. Ohne diese Kategorien ist die Wahrscheinlichkeit sogar um 34 Prozent grösser.

Wie ungleich ist das Schweizer Bildungssystem im internationalen Vergleich?

Auch in Deutschland, das ein ziemlich ähnliches Bildungssystem hat, sind die Ungleichheiten nach sozialer Herkunft sehr gross. Aber im Vergleich mit beispielsweise den skandinavischen Ländern ist die Ungleichheit viel grösser. Dies kann damit erklärt werden, dass die Selektion, das sogenannte Tracking, in diesen Ländern später stattfindet und weniger Entscheidungen zu treffen sind. Grob gesagt: Während in der Schweiz und in Deutschland schon in der 5. oder 6. Klasse entschieden wird, ob man in einen Schultrack eintritt, der ein Universitätsstudium erlaubt, findet diese immanent wichtige Entscheidung in den meisten Ländern einiges später statt.

Und bei solchen Abzweigungen muss man weitreichende Entscheidungen treffen, was schwierig ist.

Genau. Denn selbst wenn man die kognitiven Fähigkeiten für die Universität hat, muss man wiederholt wichtige Entscheidungen für die Zukunft unter grosser Unsicherheit treffen. Und je mehr davon man treffen muss, desto problematischer ist es. Vereinfacht stellt sich immer eine Kosten-Nutzen-Rechnung: Haben meine Eltern die finanziellen Möglichkeiten, mir das Gymi oder das Studium zu finanzieren oder sind sie vielleicht sogar auf mein Einkommen angewiesen? Werde ich die nächsten 10 Jahre meine schulische Leistung auf gleichem Niveau halten können, so dass ich nicht ohne Abschluss dastehe? Entspricht mir ein Universitätsstudium oder möchte ich lieber etwas «Praktisches» machen? Werde ich mich in diesem Umfeld wohlfühlen unter Personen, die möglicherweise ganz anders aufgewachsen sind als ich?

Das heisst, Leute, deren Eltern studiert haben, nehmen dann mehr Risiko in Kauf, weil sie wissen, worauf sie sich einlassen und von den Eltern unterstützt werden?

Ja. Zum einen sind Kinder aus sozial privilegierten Schichten besser über ein Universitätsstudium informiert, zum anderen haben sie ein Sicherheitsnetz. Dieses erlaubt dann auch, riskantere Fächer zu studieren wie Mode, Musik und Kunst. Riskant insofern, weil es keine festgelegten Standards gibt, was «gute» Kunst ist, sondern diese Trends ein emergentes Phänomen sind, welches sich aus einer Koordination von relevanten Akteuren im Feld ergeben. Entsprechend ist die Unsicherheit gross, ob man fähig sein wird, nachgefragte Produkte zu produzieren, um damit für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Diese Unsicherheit muss man sich entweder leisten können, oder man besitzt ein risikosuchendes Gemüt und man lässt es einfach darauf ankommen. Andere Fächer sind hingegen eine viel weniger riskante Wahl, beispielsweise Maschinenbau oder Medizin, wo man nach Abschluss vom Markt klar nachgefragte Fähigkeiten besitzt.

Aber gibt es wirklich ein Problem bezüglich der sozialen Mobilität in der Schweiz? Anscheinend ist die Einkommensmobilität sehr hoch.

Das ist in der Tat der Fall, wenn man an einer höheren Fachschule oder an einer Fachhochschule studiert. Mit dem Abschluss kann man trotz Lehre im Job hohe Positionen erlangen und lohntechnisch absahnen. Nicht alle Lehren eignen sich aber gleichermassen für einen solchen Aufstieg – die Möglichkeiten nach Abschluss einer Lehre als Coiffeur sind beispielsweise klarer begrenzt im Vergleich zu einer Informatiklehre.

Die Fachhochschulen gleichen also die Bildungsungleichheit aus?

Es kommt darauf an. Liegt der Fokus auf Einkommenshöhe, dann ist die soziale Mobilität nicht allzu schlecht. Liegt der Fokus hingegen auf dem Zugang zur Universität, dann sieht es düsterer aus. Klar kann man argumentieren, dass schlussendlich nur die Lohnhöhe zählt, aber gleichzeitig wird dadurch natürlich die Berufswahl für einen Teil der Bevölkerung eingeschränkt – mit einer Berufsmatura ist es nun mal sehr viel schwieriger, Medizin zu studieren im Vergleich zu einer gymnasialen Matura.

Das heisst, die meisten schaffen es nach der Lehre trotzdem nicht an die Uni?

Ja, und das ist kein Wunder. Man muss zuerst eine Berufsmatura machen, dann die Erwachsenenmatura bestehen und dann an der Uni erfolgreich sein. Oder man muss einen Bachelor einer Fachhochschule oder pädagogischen Hochschule haben, dann viele zusätzliche Kurse auf Bachelorniveau besuchen, um dann in den universitären Master zu wechseln. Das sind doch einige Jahre zusätzlicher Aufwand.

Das ist unfair.

Genau. Wir haben die Situation, dass nicht nur die Kinder mit der höchsten kognitiven Kompetenzen an die Universität gehen, sondern auch diejenigen mit dem grössten elterlichen Support – ein Punkt, den auch die ETH-Forscherin Elsbeth Stern immer wieder anführt.

Stern plädiert aber auch für die Einführung von IQ-Tests, die über eine Aufnahme am Gymnasium entscheiden sollen. Ist das die Lösung?

Der IQ-Test ist ein etabliertes Instrument zur Messung von Intelligenz, aber natürlich kann man das Lösen von IQ-Tests trainieren. Und genau das ist das Problem: Die Eltern werden ihre Kinder einfach in einen Kurs schicken, wo diese Fähigkeit trainiert wird. Dieses Verhalten sieht man weltweit bei standardisierten Zugangstests, beispielsweise beim SAT in den USA, aber auch im Kanton Zürich mit der Prüfung fürs Langzeitgymnasium, wo die Lernzentren ja nur so aus dem Boden gesprossen sind. Ein Kind, das hunderte solcher Prüfungen schon gelöst hat, wird beim entscheidenden Zugangstest einfach besser abschneiden, nur schon, weil die Art der Aufgaben bekannt ist und die Nervosität daher geringer sein wird.

Es landen also nicht alle am richtigen Ort?

Aus einer funktionalen Perspektive: Ja.
Gesellschaftlich gesehen möchte man ja, dass die verschiedenen Tätigkeiten von den geeignetsten Personen ausgeübt werden. Oder simpel: Ich möchte lieber von einer Ärztin behandelt werden, die die biochemischen Prozesse von Symptomen versteht und mich daher bestmöglich betreuen kann, als einer Ärztin, die knapp durch das Studium gekommen ist, weil sie die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen wollte, aber nur so halb versteht, was sie da eigentlich macht.

War die Bildungsmobilität schon immer so tief in der Schweiz?

Sie ist insgesamt eher stabil geblieben, auch weil viele Strukturen, die sich nachteilig auswirken, nicht verändert werden. Der Kanton Zürich hält etwa erbittert am Langzeitgymnasium und der Gymiprüfung fest – obwohl klar ist, dass dies in erster Linie einer sozialen und nicht einer kognitiven Selektion dient. Dies sieht man zum Beispiel daran, dass an der Goldküste in den Jahren 2014 bis 2017 fast die Hälfte der Schüler*innen eine gymnasiale Matura gemacht hat, in der ländlichen Gemeinde Fischenthal jedoch nur jede*r Dreissigste.

Und wie haben sich die Geschlechterdifferenzen bei den Bildungsabschlüssen verändert?

Früher waren die Universitäten männerdominiert, mittlerweile studieren sogar etwas mehr Frauen als Männer. Wie die Wirtschaftsnobelpreisträgerin Claudia Goldin in ihrer Forschung aufgezeigt hat, war es Frauen dank der Pille plötzlich möglich, länger beruflich tätig zu sein, da der Zeitpunkt der ersten Geburt planbar wurde und entsprechend zeitlich hinausgeschoben werden konnte. Daher hat es sich plötzlich gelohnt, in einen höheren Bildungsabschluss zu investieren.

Wie spielt das Geschlecht mit der sozialen Herkunft zusammen?

Tendenziell zeigen Frauen aus sozial benachteiligten Schichten bessere schulische Leistungen als die Männer. Dies, weil der Genderstereotyp Mädchen als ruhig und fleissig beschreibt – offensichtlich Charakteristiken, die für erfolgreiches Lernen förderlich sind. Im Gegensatz dazu gelten Jungs als wild und abenteuerlustig, aber sicherlich nicht als strebsam. In sozial privilegierten Schichten werden die Eltern schon darauf achtgeben, dass ihre Söhne die schulische Leistung erbringen, aber dies wird in sozial benachteiligten Schichten weniger der Fall sein.

Aber bei den Professuren gibt es immer noch mehr Männer als Frauen. Warum?

Einerseits wurden viele Professoren berufen, als noch mehr Männer als Frauen studierten. Andererseits ist eine akademische Karriere vielen Frauen zu unsicher, insbesondere wenn sie irgendwann mal Kinder haben möchte, da die produktivste und auch für die Karriere entscheidendste Zeit genau in die 30er fällt.

Wie geht es Studis aus sozial benachteiligten Schichten während des Studiums?

Sie wissen häufig nicht, wie das Studieren an einer Universität genau funktioniert. Was sind ECTS? Wo muss man sich anmelden? Klar werden diese Dinge in den Einführungstagen vermittelt, aber dies sind sehr viele Informationen, deren Nützlichkeit sich erst zeigt, wenn man weiss, in welche Richtung man sich spezialisieren möchte. Ich hoffe, dass die Dozierenden genügend Sensibilität für diese Problematik haben, um First Generation Studierende erfolgreich zu unterstützen.

Sind sich Studierende ihrer Privilegien bewusst?

Gewisser Privilegien vermutlich schon, aber sicherlich nicht aller. Wir alle, mich eingenommen,  haben keine Ahnung, wie das Leben anderer genau aussieht. Ob ich Privilegien besitze, kann ich nur herausfinden, in dem ich mit anderen Menschen rede, wir zufällig auf divergierende Erfahrungen stossen, deren Gründe anschliessend analysieren und dabei feststellen, dass unterschiedliche Umstände möglicherweise kausal verantwortlich sind.

Was gibt es für Lösungsansätze für die Bildungsungleichheiten?

Grundsätzlich wäre es sehr gut, wenn das Bildungssystem weniger strikt getrackt wäre. Späteres Tracking, wie etwa in den skandinavischen Ländern, ist immer sinnvoll. Es gäbe auch die Möglichkeit, dass Schulklassen bezüglich Schulleistung heterogener werden und nur gewisse Fächer unterschiedliche Niveauanforderungen haben. Dies ermöglicht es Kindern, schneller den Schulstoff aufzuholen und auch mal eine Phase mit schlechten Noten zu haben, etwa nach der Scheidung der Eltern. Zudem sollte das Stipendienwesen in der Schweiz endlich verbessert und landesweit einheitlich geregelt werden, so dass Kinder aus armen Familien sich keine Sorge um die Finanzierung des Studiums machen müssen. Wenn man das Ideal der Meritokratie schon hochhält, soll man auch dafür sorgen, dass der Bildungszugang für alle gleichermassen gewährleistet ist.

Benita Combet, geboren 1984, ist Sozio­login und Bildungsforscherin an der Uni  Zürich und Ambizione-Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds.