Terrorbird

Das Glück des Gerade-noch-Überlebens

Kulturspalte

27. Oktober 2023

Wie sieht Lebensbejahung bei einer Künstlerin aus, der sich dieses Leben häufig genug als Tortur zeigt? Jenn Champion war als Mitglied von Bands wie Carissa’s Wierd und später solo unter dem Namen S mitverantwortlich für einige der traurigeren Alben der letzten Jahrzehnte. Die kargen, im Schlafzimmer aufgenommen Gitarrenlieder von S und der Indie-Folk-Post-Rock sind seit einigen Jahren einem glatten, energischen und oft minimalistischen Synth-Pop gewichen, der Champions Stimme mehr Raum denn je gibt.

Es ist eine feine und zurückgenommene Stimme, für die das Singen eher eine Verlängerung des Sprechens zu sein scheint, aber sie passt zu den direkten, in schnörkel erzählten Geschichten in Champions Texten. «The Last Night of Sadness» heisst ihr neues Album, ein mehrdeutiger Titel, der optimistisch klingen könnte, wenn die Phrase nicht aus «(Don’t Fear) The Reaper» von Blue Öyster Cult stammen und dort aufs Sterben verweisen würde.

Verweigerungshaltung, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit, verlorene Freund*innen, Depression und Todessehnsucht dominieren thematisch die Lieder auf dem Album. «I never felt good / I went to rehab» singt sie etwa auf «28» zu einem pulsierenden Elektro-Instrumental, und erzählt die niederschmetternden Stories von gescheiterten Entzugsversuchen und Überdosen: «I’m 45 now and my friends keep dying / they couldn’t get help and there’s no fucking guidance». Das hell-treibende, glanzvolle «Millionaires» ist der offensichtlichste Pop-Hit des Albums; der Versuch, sich ein Leben zu denken, in dem man sorglos und ohne erniedrigende und zeitraubende Geldsorgen existieren könnte.

Aber in all den Abgründen gibt es das Glück des Gerade-noch-Überlebens. Besonders einschlägig ist in dieser Hinsicht das drastische «Breathing», einer Klavierballade, die sich in eine warme Synthesizerwolke auflöst, während Champion immer eindringlicher den fordert «keep on breathing». «Hey, look at you / you didn’t die / made it another 365», heisst es im Schlussstück «Happy Birthday». Es klingt ein wenig, als sei sie überrascht darüber. «The Last Night of Sadness» ist kein leicht verdauliches Album, aber es ist so ungeschönt, dass es schön ist.

«The Last Night of Sadness» von Jenn Champion ist auf den gängigen Streamingplattformen zu hören.