Die «Tombaroli» bei der Arbeit. zVg

Eine Schatzsuche durch Mittelitalien

Die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher schafft mit ihrem Film «La Chimera» eine tiefgründige Erzählung zwischen Ernst und Leichtigkeit.

9. Oktober 2023

«La Chimera» der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher feierte dieses Jahr seine Premiere beim Filmfestival in Cannes und war nun auch am 19. Zurich Filmfestival zu sehen. Der Film wirft einen faszinierenden Blick in die dunklen Grabkammern und das ländliche Leben Mittelitaliens der 80er-Jahre. Er ist eine mitreissende Erzählung über Zugehörigkeit, Geldgier, Verlust und den Ernst des Lebens.

Die europäischen Koproduktion aus der Schweiz, Italien und Frankreich folgt einer Gruppe von Grabräuber*innen, die nach etruskischen Artefakten suchen. Diese «Tombaroli» sind ein bunt zusammengeworfener Haufen von Aussenseiter*innen, deren Credo lautet: Kriminalität bei Nacht, Untätigkeit bei Tag. Ihre Geheimwaffe ist der Brite Arthur (Josh O'Connor), ein verschlossener Einzelgänger mit einem aussergewöhnlichen Talent, Hohlräume in der Erde aufzuspüren und dabei Grabkammern zu entdecken.

Doch bei dieser nächtlichen Schatzsuche durch das nördliche Mittelitalien geht es Arthur nicht wie den anderen um das Geld, dass sie mit den antiken Fundstücken verdienen. Sondern viel mehr um seine verstorbene Freundin Beniamina, mit der er sich wiedervereinen will. Rohrwacher erschafft mit beeindruckenden Nahaufnahmen emotionale Rückblenden der Beziehung, die Arthur in Träumen heimsuchen. Es gibt aber auch Momente, in denen sich Arthur dem Leben hingibt und sich gehen lässt – sein Charakter ist tragisch wie komisch zugleich. Zwischen Traum und Realität, Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit, Gemeinschaft und Einsamkeit spinnt sich der rote Faden der Geschichte, der Arthur in seiner Suche leitet.

«Nicht für menschliche Augen bestimmt»

Die einzige Person, die nebst Arthur an die Rückkehr von Beniamina glaubt, ist ihre Mutter (Isabella Rossellini). Dies verbindet die beiden. Die ehemalige Opernsängerin ist an ihren Rollstuhl gefesselt und verlässt das Haus nur selten. Betreut wird sie von ihrer Gesangsschülerin Italia (Carol Duarte). Zwischen Arthur und der geistreichen Italia entsteht eine Beziehung, geprägt von Humor und stiller Harmonie. Es scheint, als könnte sie Arthurs emotionale Isolation durchbrechen. Doch als Italia von Arthurs nächtlichen Eskapaden erfährt, ist sie alles andere als begeistert.

Italias Kritik an Arthurs Arbeit wirft eine wichtige Frage auf: Ist es richtig, jahrtausendealte Artefakte auszugraben? In einer Schlüsselszene des Films hält Arthur den abgeschlagenen Kopf einer etruskischen Statue in den Händen und raunt ihr zu: «Du bist nicht für menschliche Augen bestimmt.» Wem gehören die Schätze, die so lange unter der Erde verborgen waren? «In der heutigen Zeit tut niemand mehr etwas, ohne dabei gesehen werden zu wollen», bemerkt Rohrwacher treffend im Gespräch. Der Film ist eine Hommage an eine Epoche, in der unermüdlicher Fleiss in Dinge gesteckt wurde, die unter der Erdoberfläche verborgen blieben.

Die Musik ist genauso vielschichtig wie die Handlung. Die «Tombaroli» spielen Volkslieder mit Gitarre und Handorgel und erzählen auf einer Metaebene Arthurs Innenleben nach, indem sie als Erzähler fungieren. Die elektronische Musik von Kraftwerk begleitet thematisch die Montagenzeitraffer der Ausgrabungen. Und natürlich dürfen auch Vasco Rossi und italienischer Belcanto nicht fehlen, um die Italianità des Werks zu unterstreichen. Der Film ist reich an visuellen Metaphern und klanglichen Anspielungen, wie Arthurs Holzhütte, die ausserhalb der Stadtmauern liegt und seine Aussenseiterrolle betont. Italia ist eine Figur, die nicht italienischer Herkunft ist und somit das Thema Herkunft parodiert. Spielerisch stellt die Regisseurin Normen auf den Kopf und setzt sie geschickt als Stilmittel ein.

Arthur (Josh O Connor, m.), Pirro (Vincenzo Nemolato), Melodie (Lou Roy Lecollinet) (n.r.) und die restliche Bande der «Tombaroli» wollen den Erlös ihrer Arbeit abholen. zVg

Eine Traumkollaboration mit Isabella Rossellini

Alice Rohrwacher wird häufig mit Fellini verglichen. Eine Szene, in der ein Grab aufgebrochen wird und die Fresken verschwinden, erinnert an dessen Film «Roma», auch dort verblassen die Wandmalereien, die ein wichtiger Teil von Roms Geschichte und Identität waren. Hat sich Rohrwacher vom italienischen Regisseur inspirieren lassen? Vor allem habe sie sich auf die Erzählung ehemaliger Grabräuber*innen gestützt. «Vielleicht haben Fellini und ich die gleichen Freund*innen», kommentiert Rohrwacher nach der Vorführung am ZFF lachend.

Der britische Schauspieler Josh O'Connor überzeugt in der Hauptrolle Arthurs durch darstellerische Komplexität, Wandelbarkeit und emotionale Intensität. «Eine der grössten Herausforderungen für Josh war es, ernst zu sein, ohne sich dabei ernst zu nehmen», so die Regisseurin im Gespräch. O Connor selbst betont die Komplexität der Charakters in einem Interview mit «The Hollywood repoter»: «Ich war eigentlich noch immer auf der Suche nach dem Kern der Figur, als wir mit dem Film fertig waren.» Und Isabella Rossellini? Die Regisseurin gerät regelrecht ins Schwärmen, eine Traumkollaboration sei wahr geworden. «La amo!», sagt Rohrwacher.. 

«La Chimera» nimmt uns nicht nur mit auf eine Reise mit den «Tombaroli», sondern auch auf eine Reise zu uns selbst, zu dem, was wir wirklich sind, und sein können nach einem Verlust. Mit beeindruckender musikalischer Begleitung und einer herausragenden Besetzung, allen voran Josh O'Connor, versteht es der Film, den Ernst des Lebens einfühlsam zu porträtieren, ohne dabei die Leichtigkeit zu vernachlässigen.

«La Chimera» läuft ab dem 12. November im Kino.