Kolonialismus, kindergerecht
Die Künstler*innen Wangari Grace und Sven Kacirek arbeiten den Kolonialismus in einem Theaterstück auf. Es richtet sich an ein junges Publikum – und kommt gut an.
«Nairobi, die Stadt, aus der ich komme…» So eröffnet Wangari Grace ihre musikalische Erzählung über den Kolonialismus mit Sven Kacirek. Die kenianische Geschichtenerzählerin und der deutsche Musiker haben zusammen ein Stück erarbeitet, welches die Kolonialzeit aus einer afrikanischen Perspektive aufarbeitet und kritisch hinterfragt. Das Stück haben sie bereits in Hamburg, München, Nairobi zur Aufführung gebracht. Dabei bedienen sie sich der Methode «Oral History», bei der Berichte von Zeitzeugen in den Mittelpunkt gestellt werden.
In Zürich lief das Stück im Rahmen des Theaterspektakels vom 28. bis 31. August im Fabriktheater der Roten Fabrik. Es wird zu dritt aufgeführt: Nebst Sven und Wangari steht auch noch Deborah Macauley auf der Bühne und liest die Geschichten auf Deutsch vor.
Gräuel aus dem 19. Jahrhundert
Der Raum ist abgedunkelt, im Publikum sitzen etwa gleich viele Kinder wie Erwachsene, verschiedene Requisiten liegen auf der Bühne verteilt – darunter Porträts von berühmten Persönlichkeiten der Kolonialzeit wie dem Politiker Patrice Lumumba, der Fotografin Alice Seeley Harris oder der Sängerin Miriam Makeba, ein Globus und zwei Totenschädel. Wangari veranschaulicht mit diesen Gegenständen historische Vorkommnisse. Besonderen Fokus legt sie dabei auf Belgisch-Kongo: Sie verwebt geschichtliche Ereignisse wie die Kongokonferenz, die Erfindung des Veloschlauchs oder den Maji-Maji-Aufstand mit persönlichen Berichten von Betroffenen. Stimmen, die viel zu lange nicht gehört wurden.
In einer besonders bildhaften Erzählung des Stückes steht Wangari hinter einem Altar. Zwei Totenschädel vor ihr. Sie misst sie aus; einer repräsentiert die Gehirnmasse einer weissen Person und der andere diejenige einer schwarzen Person. Der US-amerikanische Anthropologe Samuel Morton hat dieses Experiment im 19. Jahrhundert durchgeführt, um zu «beweisen», dass die «weisse Rasse» anderen «Rassen» kognitiv und folglich grundsätzlich überlegen sei. Damit lieferte er eine pseudowissenschaftliche Basis, um strukturellen Rassismus und Sklaverei zu rechtfertigen.
Das Stück stellt diese und andere koloniale Praktiken dar und zeigt Überbleibsel davon. Zum Beispiel die «Antwerpse Handjes», eine Schokoladenspezialität aus Antwerpen, die an die abgeschlagenen Hände in den Gummibaumplantagen des Kongo-Freistaat erinnern. Als sie präsentiert werden, schweigt das Publikum betreten.
Kinder brauchen keine Euphemismen
Die Aufführung richtet sich an Kinder ab 10 Jahren. Ist ein komplexes und brutales Thema wie Kolonialismus kinderfreundlich? «Manchmal treffen wir auf Lehrpersonen, welche die präsentierten Inhalte für Kinder als zu extrem oder brutal empfinden», sagt Sven. Jedoch seien die Reaktionen der Kinder immer äusserst positiv – sie stellten Fragen und seien neugierig.
Das Ziel der Künstler*innen ist es, das Publikum zum Nachdenken anzuregen. Dabei verwenden sie keine Euphemismen. Ihr Projekt zielt darauf ab, eine klaffende Lücke im europäischen sowie im afrikanischen Lehrplan zu schließen. «In den kenianischen Schulen unterrichten wir den Kolonialismus aus britischer und somit eurozentrischer Sicht», meint Wangari. Deshalb ist es den Künstler*innen wichtig, ihr Stück aus einer afrikanischen Perspektive zu erzählen, eine Perspektive, welche auf die Geschichten der Betroffenen und des Volkes eingeht, welche hinter den Zahlen und Fakten auch Geschichten und Menschen sieht.
Die Geschichtenerzählerin berichtet von den Schwierigkeiten, die das Erzählen eines komplexen Themas wie des Kolonialismus mit sich bringt. «Ich muss mich immer daran erinnern, dass ich ein Medium bin, welches die Fakten wiedergibt und weder beschönigt noch dramatisiert.»
Während des Stücks wird deutlich, dass Kinder in der Lage sind, komplexe Inhalte zu verstehen, und dass ihnen diese Fähigkeit auch zugetraut werden sollte. Die Begeisterung, die Stille, das Mitfiebern während der Vorführung sowie die vielen Fragen, welche die Kinder in der Fragerunde am Schluss stellen, lassen darauf schliessen, dass das Stück gut bei ihnen ankommt.
«Die Afrikaner*innen, die sich wieder beklagen»
Da Wangari bei der Aufführung eine so zentrale Rolle spielt, übersieht man Sven leicht. Obwohl die beiden das Stück zusammen geschrieben und auf die Bühne gebracht haben, denken viele, dass Sven nur die musikalische Begleitung der Geschichtenerzählerin ist. Es verhalte sich eher so, dass Sven, als weisser, privilegierter Mann, versuche, bewusst wenig Platz einzunehmen und den Platz anderen Personen zur Verfügung zu stellen. Sven steht im Hintergrund und begleitet die Geschichte musikalisch. Meistens auf seiner Marimba, manchmal mit einem Waterphone, einem merkwürdig aussehenden Instrument mit Metallstäben, oder thematisch passenden Samples. Er ist ein wichtiger Teil des Theaters, nimmt jedoch wenig Platz auf der Bühne ein.
«Manchmal denke ich, dass das Stück stärker wäre, wenn zwei schwarze Personen auf der Bühne stehen würden», so Sven. Wangari widerspricht ihm hier, sie glaubt, dass ihre Show dann nur im Sinne von «Afrikaner*innen, die sich wieder beklagen» verstanden würde. Dabei gehe es vielmehr darum, einen Dialog zu führen und eine gemeinsame Aufarbeitung zu finden. Entsprechend endet der gemeinsame Weg von Sven und Wangari nicht mit dieser Aufführung. Das Duo arbeitet bereits an einem nächsten Projekt, welches spezifisch den Postkolonialismus thematisiert und im Mai 2024 in Hamburg sein Debüt feiern wird.