Frisch mobilisierte Soldaten des Schweizer Grenzschutzes am 29. August 1939 in Laufen. Keystone

Ringen um das «neue Europa»

Aus dem Archiv — Die Schweiz blieb vom Zweiten Weltkrieg weitgehend verschont. Dennoch prägte der Krieg den Alltag und die Perspektive der Studierenden, wie drei Texte im «ZS» belegen.

1. Oktober 2023

Einleitung von Jon Maurer

Etwa 450‘000 Schweizer Soldaten rückten am zweiten September 1939 zum Aktivdienst ein, nur einen Tag nachdem die deutsche Wehrmacht Polen überfallen hatte. Zusätzlich begaben sich ungefähr 10‘000 Schweizer Frauen in den Frauenhilfsdienst (FHD), der die Armee unterstützte. Unter den Eingezogenen waren auch viele Studierende der Universität Zürich und der ETH.

In ihrem Editorial «Student und Soldat» (April 1941) hielten die Redaktoren des «Zürcher Student» ein wenig naiv das Ideal eines männlichen, pflicht­bewussten Soldaten hoch. Die nüchterne Schilderung des Soldatenalltags im «Soldatenbrief» (Juni 1940) von Kanonier R. steht dazu im Gegensatz. Ihm schien «das Recht, lustig zu sein» am wichtigsten für die Resilienz der Soldaten.

Die unmittelbare Bedrohung durch den Nationalsozia­lismus regte aber auch zu grundlegenderen Reflektionen an. In seinem Essay «Wir und Europa» (Juni 1941) kritisierte Arnold Künzli die Zensur von ausländischen Meinungen über die Schweiz. Wer die Auseinandersetzung mit dem Ausland meide, sei ungefestigt und mache sich anfällig für die nationalsozialistische Ideologie, so Künzlis Argument.

Student und Soldat

Die Redaktion des ZS / April 1941

Wir alle stehen heute im Dienste, auch diejenigen, die noch nie ein Stahlhelm drückte. Dienst und Studium sind nahe daran, eins zu werden, und es werden letzte Anforderungen an uns gestellt, um in beiden gleicherweise unseren Mann zu stellen.

Viele vergessen im Dienst, daß sie Studenten sind, vergessen im Studium, daß sie Soldaten sind. Der «Zürcher Student» ist mit dem festen Vorsatz eingerückt, keines von beiden zu vergessen, denn Dienst und Studium ergänzen sich zu jener menschlichen Haltung, die jeder heute einnehmen muß, will er nicht von der Zeit als untauglich abseits gestellt werden. Auf den Geist kommt es an, weder auf die Anzahl Diensttage noch auf den Dr.-Titel. Die Konflikte, Probleme und Fragen, die dem «Zürcher Studenten» im Dienst wie im Stu­dium begegnen, wird er gewissenhaft und verantwortungsbewußt seinen Kommilitonen vorlegen. Vielleicht findet der eine oder andere seine eigenen Nöte darin wieder und meldet sich zum Wort.

Im gemeinsamen Gespräch wollen wir uns gegenseitig helfen und lernen, ob dem Persönlichen das Ganze nicht zu vergessen, lernen, schweizerisch und somit europäisch zu denken.

Aus einem Soldatenbrief

Kanonier R. / Juni 1940

Es ist wirklich rührend, welch naive und seltsame Vorstellungen wir Soldaten oft unter der Zivilbevölkerung über den Aktivdienst antreffen. Letzthin erhielt einer von uns ein Paar Bettsocken zugeschickt, sage und schreibe: Bettsocken!

— Ja ja, so ist das Leben: In der Sonntagsschule und im Konfirmanden-Unterricht wird es einem ans Herz gelegt, mit den Mitmenschen freundlich und anständig umzugehen, und mit zwanzig Jahren wird man dazu «verführt», Stacheldrahtverhaue auf «tuusig und zrugg» zu errichten, in denen sich der Mitmensch blutig kratzen kann, damit er möglichst leicht herunterzuknallen ist.

Manchmal finden wir selber den Ausweg nicht mehr aus unsern Stacheldrahtgehegen. Sie haben schon manchen Triangel abgesetzt. Und herrlich ist es auch gerade nicht, bei der größten Kälte, dann wieder bei Regen oder Hitze Stacheldrahtrollen abzuwickeln und sich die verfrorenen oder schwieligen Hände zu verkratzen…

Aber man beißt in die Lippen, schuftet weiter, und man denkt an nichts weiter als daran, wie lange es noch gehe, bis der Polier die Znünipause pfeifen werde. Dann geht es wieder an die Arbeit, hie und da ein Fluch, ein bissiger Witz…

Der Soldat muß auch etwas haben. Er hat keinen Komfort, kein warmes Nest, aber eines darf ihm niemand nehmen, das Recht darauf, lustig zu sein, zu spotten über andere, und wenn es ihm paßt, auch über sich und seine eigenen Laster und Miseren.

Wir und Europa

Arnold Künzli / Juni 1941

In einem ausländischen Blatte war kürzlich über uns Schweizer Folgendes zu lesen: «Die Schweizer merken gar nicht, daß sie einmal ein unangenehmes Erwachen erleben können, wenn sie die Löcher der Schweizer Käse als einziges Guckloch benützen, durch das sie sich, von ihrem geistigen Mond herab, die Welt ansehen.» Es sind in letzter Zeit noch mehr solch schöner Worte aus dem Auslande auf uns herabgeregnet, doch hält die Schweizer Zensur einen währschaften Schirm über das Land, und nur wer Glück hat, erhält ab und zu einen Tropfen auf die Nase. (...)

Wäre es nicht besser, einer breiteren Volksschicht bekannt zu geben, was das Ausland über uns denkt und schreibt, wenigsten denen, die genügend Verantwortungsbewusstsein besitzen, um mit diesen Tatsachen nicht politische Scheiben einzuschlagen? Denn wir stehen in einem unerbittlichen geistigen Kampfe, wir sind in unserer geistigen, sittlichen und religiösen Lebenshaltung angegriffen durch eine Übermacht, die uns mit Gewalt in ein «neues Europa» hineinzwingen will, in welches uns hineinzwingen zu lassen wir aber nicht gewillt sind, weil uns unser Geist, unser Herz und vor allem unser Gewissen zu einem durch Blut und Gewalt zusammengehaltenen Europa ein radikales Nein diktiert. Wir sind im Kampfe, und wir wollen weiter kämpfen.

Doch um kämpfen zu können, braucht es zweierlei: den unerschütterlichen Glauben an das Gute der eigenen Sache und die ebenso unerschütterliche Gewißheit (die uns die Stimme unseres Gewissens gibt), daß der uns Angreifende (denn wir kämpfen nur als Verteidiger!) im Unrecht ist. Wie lernen wir jedoch den uns Angreifenden, seine Argumente, seine Vorwürfe, vielleicht auch seine Beweisführungen kennen, wenn man uns seine Stimme vorenthält? Wie können wir an unsere Sache glauben, wenn wir nur immer die eigene Stimme, nie aber die des «andern» hören, der uns überzeugen will? (...)

Denn diese Äusserungen besitzen für uns einen oft unschätzbaren Wert, allerdings im gegenteiligen Sinne, als es die jeweiligen Autoren meinen, denn sie zeigen uns in aller Schärfe jene Stellen, an denen wir verwundbar sind, wo wir mit der Arbeit an uns selbst einzusetzen haben. Ich denke an das Zitat von den Käselöchern, und wahrlich, in diesem Satze ist eine der größten Gefahren gekennzeichnet, die uns Schweizer heute bedrohen: das Sich-Verkriechen hinein in die Berge, das konservative Sich-Abschließen gegen alles Neue, ohne Prüfung, bloss weil es neu ist, ohne Blick auf das Tun der andern, die Flucht vor der verantwortungsbewussten Auseinandersetzung mit dem, was jeder Tag an Neuem bringt, sei es nun dies- oder jenseits unserer Grenzen aufgetaucht.

Wer aber die Auseinandersetzung meidet, der steht nicht auf festen Füßen und fällt um, sobald der Gegner mit einem scheinbar kräftigen Argument anrückt. (...)

Wir müssen lernen, Schweizer zu bleiben und doch europäisch zu denken. Gerade wir Studenten, die wir allzu oft in der Kleinarbeit unseres Spezialgebietes belangen sind, gerade wir müssen die Augen auch für die grossen Zusammenhänge offen behalten. Denn wer weiss, was uns die Zukunft noch für Aufgaben vorbehalten hat, wer weiss, ob nicht wir es sind, die plötzlich vom kranken Europa um Hilfe angerufen werden, die sich plötzlich vor der Aufgabe sehen, in Ländern statt in Atomen zu denken… Und dann müssen wir bereit sein.

Voraussetzung dieser zukünftigen Be­reitschaft aber ist die gegenwärtige, lebendige, gewissenhafte und verantwortungsbewusste Auseinandersetzung mit den Problemen, die uns das aktuelle Weltgeschehen täglich stellt. Wenn die andern das Abhören und Lesen ausländischen Gedankengutes bei Todesstrafe verbieten, so sollten wir dieselbe Strafe über diejenigen verhängen, die bloss ihr Parteiblatt lesen und Beromünster hören.  Je mehr sich die andern abschliessen, um so offener wollen wir bleiben! (...)

Auch wir wollen ein «neues Europa» doch ein Europa des Zusammenredens, nicht der Faust, ein Europa föderalistischer Duldung, nicht gewalttätiger Führung durch ein einzi­ges Volk, ein Europa des Gewissens, nicht des Rausches — ein Europa, wie wir es im Kleinen in unserer Eidgenossenschaft zu leben bemüht sind. Die Keime zu diesem neuen Europa liegen in uns, in jedem Einzelnen von uns, und ganz besonders in uns Akademikern.