zVg

Menschenfeindliche Architektur

Kulturspalte

29. September 2023

Wer spätabends im Stadtzentrum herumgeistert, bemerkt womöglich, dass der Hauptbahnhof schliesst. Zu beobachten sind sorgfältige Reinigungsarbeiten, die auch gestrandete Reisende vom Boden entfernen würden. Auch wenn man sich tagsüber im Innenraum nie­derlässt, wird man immer wieder von Sicherheitsleuten weggescheucht: «Sie dürfen hier nicht sitzen».

Unangenehme Subtilitäten, könnte man meinen. Doch genau solche Details sind es, die im Buch «Platz Nehmen – Gegen eine Architektur der Verachtung» von Mickaël Labbé als Symptome eines weitaus grösseren Problems enttarnt werden. Den Menschen wird das Recht auf ihre Stadt genommen. Der zentrale Punkt des Buches ist, dass durch eine Form moderner Architektur und Stadtplanung Verachtung gegen die Einwohner*innen ausgedrückt wird. Beispiele gibt es leider viele: So können Menschen ohne Unterkunft auf unebenen Bänken nicht schlafen und Überwachungskameras schüren ein Gefühl des Misstrauens. Durch diese Auswüchse werden marginalisierte Gruppen wie Arme aus der Stadt gedrängt und unsichtbar gemacht.

In den Worten Labbés: «Räume gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu gestalten, lässt sie für alle unwirtlich werden». Diese Unwirtlichkeit verstärke Angst und degradiere das Zusammenleben zu einem blossen Nebeneinanderbestehen.

Die Menschen sollen, so der Ästhetikdozent, die Stadt zurückerobern. Dazu müsse man die Quartiere wieder zu Plätzen für ihre Einwohner*innen machen, an denen auch Austausch, Begegnung und Müssiggang abseits der ka­pitalistischen Marktregeln möglich ist. Kurzzeitige politische Aktionen wie Demonstrationen seien zwar wichtig, jedoch kann demokratische Stadtentwicklung laut Labbé langfristig nur durch eine Rückeroberung der Alltagsplätze durch ihre Bewohner*innen garantiert werden. Zuletzt appelliert Labbé an die Verpflichtung der Architektur, die Städte für ihre Menschen auszulegen, statt einfach kapitalistische Interessen zu bedienen und sich zudem in künst­lerischen Spielereien zu verlieren.

Labbé prä­sentiert in dieser lehrreichen Lektüre einen Überblick darüber, wie sich Städte von ihren Bewohner*innen entfremden, stellt konkrete Lösungen für ein besseres Zusammenleben vor, ohne in utopische Gedanken abzuschweifen, und muntert jede einzelne Person dazu auf, die Stadt für alle ein wenig besser zu machen.

Zum Buch

«Platz nehmen. Gegen eine Architektur der Verachtung» von Mickaël Labbé ist im September 2023 im Nautilus Flugschrift Verlag erschienen.