Die Schriftstellerin und Fotografin plädierte für Freiheit im Namen der Kunst. Hier abgelichtet von Anita Forrer. zVg

Im Zeichen der Diktatur

Aus dem Archiv — Anfangs 1930 benutzten Frontisten den ZS als faschistisches Pamphlet. Annemarie Schwarzenbach hielt dagegen und mahnte zur Menschlichkeit.

29. September 2023

Einleitung von Anahi Frank

1929 wurde Hans Vonwyl ZS-Redaktor und veröffentlichte gleich als erstes einen Artikel, der den Wiener Antisemitismus rechtfertigt. Das passte in sein Programm: Vonwyl gründete die faschistische Partei «Nationale Front» und druckte weitere antidemokratische und völkische Artikel – so wie «Ustertag» von P. Herzog.

Dennoch kamen im ZS auch liberale Stimmen zur Geltung. 1931 plädierte die 22-jährige Schriftstellerin, Reporterin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach für individuelle Freiheit und warnte vor Intoleranz. Während ihre Eltern mit dem Nationalsozialismus in Deutschland sympathisieren und finanziell unterstützen, rebelliert Schwarzenbach und setzt sich für deutsche Emigranten ein. Im selben Jahr veröffentlichte sie ihr literarisches Debüt – einen autobiographisch gefärbten Roman über Freundschaft und Homosexualität.

Hans Vonwyl musste die Redaktion 1931 räumen, nachdem die «Nationale Front» Verkäufer einer kommunistischen Studierendenzeitung tätlich angegriffen hatte. Ihm folgt Robert Tobler, Mitglied der «Neuen Front». So blieb der ZS rechtsradikal ausgerichtet, bis 1933 ein neuer Redaktor vermehrt auf Berichte aus dem Studentenleben setzte – wie zum Beispiel der Text von Max Frisch.

Ustertag

P. Herzog / Dezember 1930

Am 23. November 1930 feierten die freisinnige, die demokratische und die Bauernpartei das Jubiläum des Ustertages von 1830. In der Studentenschaft hat diese Veranstaltung nicht den geringsten Widerhall gefunden. Und das ist gut so. Denn das ganze Fest war eine bedenkliche Angelegenheit. Der Kampf des Landvolkes von 1830 um seine Lebensrechte, das Ringen eines zum Selbstbewusstsein erwachten Standes hat mit diesem Sonntagsspaziergang von fünftausend wohlgenährten Bürgern gar nichts mehr zu tun. […]

Der Glaube an die Gleichheit hat uns diesen knechtischen Absolutismus der Demokratie gebracht, der jede selbständige Haltung und jede Kritik an der Demokratie aufs gemeinste verdächtigt und unterdrückt. […] Am besten aber zeigt sich, wohin dieser Glauben an die Gleichheit führt, wenn wir die Tochter der bürgerlichen Demokratie, die Sozialdemokratie näher ins Auge fassen.

Sie ist in allen Worten und Taten niedrig, sie beschmutzt alles Hochstehende und zieht alles in den gleichen materialistischen Sumpf, in dem sie steckt. So hat der Gleichheitsglaube immer mehr zur Auslöschung der menschlichen Ränge und zum unsichtbaren, aber niederträchtigen Terror des Durchschnitts geführt und unser Volk amerikanisiert, vermasst und verlarvt. [...] Zu wirklicher Freiheit des einzelnen wie des ganzen Staates führt nur die Ungleichheit. Goethe sagt: Freiheit ist nicht, dass wir nichts über uns anerkennen, sondern erst, dass wir etwas über uns anerkennen, macht uns frei. Opferfreudiges Dienen an einer Idee oder für einen Führer steht viel näher bei der wirklichen Freiheit als das dünkelhafte Souveräntun unserer Kleinbürger, die sich gestatten, über jede wahrhaft souveräne Führerpersönlichkeit des heutigen Europa zu schimpfen. […]

Noch ein anderes demokratisches Phantom ist die «Souveränität» des Volkes! Meines Erachtens ist ein Volk dann souverän, wenn es von seinen Grössten und Besten gelenkt wird. Nicht souverän, sondern versklavt ist es, wenn sein Tun von unverantwortlichen Bonzen und vom Geldsack befohlen wird wie in unserer heutigen schweizerischen Staatsform. Das Volk ist in dieser Frage in einem schlimmen Irrtum befangen, denn da ihm die Nutzniesser des Bonzensystems vorspiegeln, sie richteten sich ganz nach dem Willen des Volkes und der Stimmzettel entscheide alles, meint jeder einzelne, er würde etwas verlieren, wenn er seinen Stimmzettel nicht mehr abgeben könnte.

Es bleibt aber eben eine unleugbare Tatsache, dass durch den Stimmzettel alle die Parteien mit ihren Bonzen an der Macht bleiben, die durch ihre überlebte Existenz die Schweiz an einem wahrhaften Fortschreiten verhindern. […]

Dass sich aber die Schweiz wirklich erneuere, bedarf es eines Mannes, der ein Künstler, erfüllt von Treue gegenüber alter eidgenössischer Tradition, aber auch voll Strenge gegen sich und das Volk, die Macht ergreift und tut was nötig ist. Solche Männer sind zu allen Zeiten aufgestanden, oft wenn man es am wenigsten hoffte und haben nach Perioden der Stagnation und des Zerfalls die Geschichte wieder vorwärts getrieben. Auf welche Art das in heutiger Zeit zu geschehen hat, dazu weist uns Mussolini den Weg. (Damit ist allerdings nicht gesagt, dass wir Mussolinis Aussenpolitik billigen. Als nationalgesinnte Schweizer müssen wir auf sie ein wachsames Auge haben.) Es ist an der Zeit, zu einem neuen Ustertag aufzurufen, in dem wieder der Geist von 1830 herrschen soll, jener Geist der Solidarität des ganzen Volkes, der nicht nachlässt, bis er eine überlebte Ordnung weggeräumt hat und eine neue nationale und soziale Ordnung geschaffen ist. Dann wird es möglich sein, dass für diesen kommenden Staat auch die junge Generation wieder freudig Verantwortung übernimmt und alle ihre Kräfte einsetzt, um einer wahrhaft selbständigen und freien Schweiz zu dienen.

Lob der Freiheit

Annemarie Schwarzenbach / April 1931

Es entspricht unserer Neigung das Leben in Theorien zu begreifen, wenn wir jede Epoche mit einem Schlagwort versehen und ihr den einseitigen Stempel einer Tendenz aufdrücken. Es entspricht auch der amerikanischen Standardisierung, welcher das Individuum heute mehr oder weniger seinen Tribut zahlt. Immerhin ist dem einzelnen die Möglichkeit der Rebellion geblieben.

Dass aber die Theorie in solchem Masse zur Vereinheitlichung neigt, dass das heutige Schlagwort der politischen Diktatur auch die geistigen Gebiete ergreift, scheint der kulturellen Vielfalt bedrohlich. Diese Vermengung politischer Haltung mit geistigen Lebensformen ist unerträglich und erniedrigend. Gewiss ist es nutzlos, sich gegen den Geist der Epoche aufzulehnen, und keiner entrinnt der Zeit, welcher er angehört. […]

Die Umkehrung der Ansprüche, die Versklavung der geistigen Kräfte im Dienste irgendeiner «Institution» war stets eine Gefährdung des kulturellen Reichtums. Selten fallen politische 13 Blüteperioden mit den geistigen Höhepunkten einer Nation zusammen, und nie hat es dem Geiste gefrommt sich in den Dienst des Staates zu stellen. Die kriegerischen Leistungen Spartas haben seine fehlende Kultur nicht ersetzt, die Begabung der Griechen hat in Athen das Reich ihrer Wirksamkeit gefunden. Wohl kennen wir fortschrittselige Epochen — sie folgen fast immer auf grosse äussere Siege — welche einen hohen Grad geistiger Aufklärung und materiellen Fortschrittes verbinden.

Aber eben das Beispiel des neuen deutschen Kaiserreiches, welches so glanzvoll begann, lehrt, dass jene Angleichung und Vermischung der Lebenssphären den geistigen Anspruch herabsetzt und verflachen lässt. Die geistig-schöpferischen Kräfte brauchen Einsamkeit und Freiheit. Nirgends erhebt sich der Anspruch individueller Freiheit mit grösserem Recht. Die der bürgerlichen Prosperität so zuträglichen Epochen materiellen Aufschwungs erschlaffen oder vereinseitigen zum mindesten die tiefere geistige Regsamkeit. […]

Heute stehen wir, so hört man allgemein, im Zeichen der Diktatur. Ist es aber notwendig, die staatliche Tyrannei der Sowjets und die persönliche Autokratie der neuen Diktatoren und ultrareaktionären Volksführer, ist es notwendig, all diese hier nicht zu diskutierenden Erscheinungen in das geistige Leben eingreifen zu lassen, wo ihre Wirkung noch viel einseitiger und menschenunwürdiger ausarten müsste als in jenen Sphären der Tat, welchen sie entstammen?

Ist es notwendig, dass wir […] wieder Fanatiker der Intoleranz und Anbeter des Autoritätsglaubens werden, dass wir von panischem Schrecken vor der «Realität aller Werte» erfasst, uns in das extreme Gegenteil retten, als gelte nicht wenigstens auf geistigem Gebiet das Gesetz des schönen Masses?

Nach der französischen Revolution hat eine ähnlich panische Furcht die heilige Allianz hervorgebracht, welche die Griechen in ihrem Freiheitskampf zu unterstützen sich weigerte, weil dieser Kampf gegen das Prinzip der Legitimität und Autorität verstiess! Dem Unbefangenen widerstreben die Äusserungen dieses Geistes ebenso wie ihm die bevorzugten Formen des heutigen politischen Lebens bedenklich erscheinen. Sollte die staatsbürgerliche Tüchtigkeit wieder der geltende Massstab für den «Wert» des einzelnen sein? Und sollten die in vielen Kämpfen errungenen Bedingungen einer freien Persönlichkeit so leicht wieder preisgegeben werden? Allein das eine genannte Symptom: die religiöse Intoleranz — wird zu einem Zeichen der Unkultur, gegen die unser Empfinden sich auflehnt. Humanität, Toleranz und ein reiner Wille bleiben durch alle sich wandelnden Daseinsformen die selbstverständlichen Forderungen eines freien Geistes.