Sic4rio hatte seinen Durchbruch bei der SRF-Sendung «Bounce-Cypher», trotz zwei Aussetzer beim Liveauftritt.

Der Junge aus dem Viertel

Rapper Sic4rio wuchs im Kreis 4 auf, wodurch er früh mit Drogen und Gewalt in Kontakt kam. Diese Realität schildert er in seiner Musik. Nun unterzeichnete der 20-Jährige einen Vertrag mit Sony Music.

29. September 2023

Ein junger Mann mit Bandana schlendert die Treppen der Lochergut-Hochhäuser hinab zu einem schwarzen Porsche. Man bemerkt kaum, dass das Video schwarzweiss gedreht ist, wenn man die hellrote Fassade der ehemaligen Arbeiter*innensiedlung an der Karl-Bürkli-Strasse nicht kennt. Wenn man nicht mit der Poesie dieser Gegend vertraut ist. Zu gut kaschiert der anthrazitfarbene Filter die Symphonie der Widersprüchlichkeiten, die sonst in dieser Gegend so laut sind. Lachende Kinder, deren junge, eher gut verdienende Eltern in den letzten Jahren hierhergezogen sind. Dann und wann die Stimme der Verkäuferin vom Anny-K Kiosk, wenn sie stolz von der Kaffeemischung in ihrem Cappuccino erzählt. Man hört einen Mix an Sprachen an dieser Ecke und vor allem hört man viel Rap.

«Was geht, was geht? Ussersihl im Huus. Sic4rio. Rap United. 32 Bars, gib ihm!», sagt der 20-jährige Rapper im oben beschriebenen Musikvideo. Seine Musik wird überall gepumpt. Vor dem Dönerladen Ararat am Lochergut, auf der Fritschiwiese, unterwegs zum Feiern an der Langstrasse, reihum dröhnt sie aus den Innenhöfen. Jetzt  scheint auch ein grosses Label das Potenzial des Jungen aus dem Kreis 4 zu erkennen, denn vor gut einem Monat unterzeichnete Sic4rio einen Major-Deal mit Sony Music Switzerland.

Perspektivlosigkeit und Wut

Ich treffe den 2003 geborenen Rapper im Grand Café Lochergut, hinter uns der berühmt-berüchtigte Hochhauskomplex. Immer wieder dringt sein «Aussersihler Slang» durch, wenn er über seine Kindheit im Quartier spricht. Die Leute in seinem Block sind gefühlt alle seine Verwandten, er genoss eine schöne Kindheit, ging im Quartier zur Schule, erst ins Schulhaus Hohl, dann in die Sekundarschule gegenüber. Allmählich finden die Themen, die er in seinen Liedern schildert, Einzug in sein Leben.

Für ihn ist es diese Gegend, die eine*n zu dem macht, was er in seiner Musik darstellt. Es sei diese Gegend, die verursacht, dass man mit Drogen, Kriminalität und Gewalt in Kontakt kommt. Vielen fällt es schwer, zu glauben, dass Lebensrealitäten wie seine in der Schweiz existieren. Die Perspektivlosigkeit und die Wut in seiner Kunst wirken für manche künstlerisch überhöht. Doch das Quartier wurde in den letzten 20 Jahren medial ständig als Problembezirk gebrandmarkt, manchmal mit rassistischem Unterton. Zudem wurde das Quartier in dieser Zeitspanne extrem aufgewertet und viele Menschen, die Aussersihl jahrzehntelang prägten, wurden von der Stadtzürcher Wohnungspolitik vertrieben.

Es wird ständig über den Kreis 4 geredet, aber kaum mit den Menschen, die dort aufgewachsen sind. Genau deshalb rappt Sic4rio über die Dinge, über die er rappt: um aufzuzeigen, dass Lebensrealitäten wie seine auch Teil der Schweiz sind.

In der Schule hätten er und sein Freundeskreis mehr Unterstützung gebraucht, sagt er. Einer seiner Freunde tauchte eine Zeit lang nicht auf, weil er in Untersuchungshaft sass, andere erschienen bekifft zum Unterricht. Sie fühlten sich im Stich gelassen. Allein die Postleitzahl 8004 im Lebenslauf zu haben, würde die Suche nach einer Lehrstelle erheblich erschweren. Dennoch scheint Sic4rio sich mit seiner Vergangenheit zurechtgefunden zu haben. Durch diese Erfahrungen hat er gelernt, sich selbst eine Stütze zu sein. Musik, Fussball, Kampfsport und seine Familie hätten ihm dabei geholfen.

«Es isch ok, wenn du keine Droge nimmsch oder ticksch.»
Sic4rio, Rapper

Aufgewachsen ist Sic4rio christlich und hindu. Er pflegt Kontakt zu seiner Familie in Sri Lanka, das sein Vater wegen dem Bürgerkrieg verlassen musste. Auch wenn er die Schweiz heute als seine Heimat betrachtet, interessiert er sich sehr für die Geschichte seiner Eltern und die Kultur, bedauert aber das politische Klima, das die historischen Ereignisse in der Heimat seiner Eltern hervorgebracht haben. Einer seiner besten Freunde ist Singalese, und für die beiden macht dieser Hass überhaupt keinen Sinn: «Ich kann nichts dafür, dass ich Tamile bin, er kann auch nichts dafür, dass er Singalese ist. Was hat das alles denn überhaupt mit uns zu tun?».

Sein Handy vibriert dauernd

Durch seinen älteren Bruder lernte er Rapmusik lieben. Heute noch sind Deutschrap-Klassiker aus dessen Repertoire grosse Inspirationen für Sic4rio. Celo & Adbi, Bushido, aber auch Stilrichtungen wie UK Drill hört der Zürcher gerne. Das spiegelt sich auch in seiner eigenen Musik wider, die nicht selten mit einem zum Kopfnicken anregendem Boom Bap Beat hinterlegt ist. Inhaltlich sind seine Lieder von dem beeinflusst, was er im Kreis 4 beobachtet, die Geschichten, die er erlebt und erzählt bekommt. Sie ist geprägt von den Menschen, die er kennt, mit denen er aufgewachsen ist. Und dennoch ist Sic4rio nicht bloss ein Geschichtenerzähler, er hat auch eine Message, wie man in «Blockkids», dem Song, auf den er am meisten stolz ist, hören kann. Darauf warnt er vor den Schattenseiten des Lebens in seiner Gegend und rappt darüber, dass es auch hier möglich ist, sein Leben umzukrempeln. Ein Macher ist für ihn jemand, der seine Eltern stolz macht, sagt er und rappt: «Mit gueter Bildig bisch du trotzdem real» oder «Es isch ok, wenn du kei Droge nimmsch oder ticksch».

Während unseres Gesprächs vibriert Sic4rios Handy dauernd. Irgendwann muss ich das Band stoppen, damit er den Anruf seines Managers beantworten kann. Er legt auf und bestellt sich noch eine Passionsfrucht-Schorle. «Über was hemer gredt? Ah ja stimmt, das isch e luschtigi Gschicht…» fährt er fort. Die Geschichte seines Durchbruchs begann bei der  SRF-Sendung «Bounce Cypher» von diesem Jahr. Er hatte beim Rappen zwei grosse Aussetzer und konnte deshalb nicht richtig punkten. Er steckte damals mitten in der Lehrabschlussphase, hatte andere Prioritäten. Er wollte seine Eltern stolz machen und die Lehrabschlussprüfung bestehen. Dennoch schrieb er innerhalb einer Woche einen Text – und hatte dann am Cypher ein Blackout. Trotz der Aussetzer brach er seinen Part nicht ab. Er rappte einfach weiter. Enttäuscht von sich selbst verliess er das Fernsehstudio. Er dachte: Das wars.

«Einfach mal machen»

Kurz darauf meldete sich Sony bei Sektion Züri, einem Label, das dem jungen Rapper sehr nahesteht. Die Chefin des Major-Labels schien tief beeindruckt von seinem Biss und seiner Professionalität gewesen zu sein, davon, wie er mit seinen Texthängern umgegangen sei. Hätte er abgebrochen oder von vorne begonnen, hätten sie ihn nicht in 10 Jahren unter Vertrag genommen, erzählt er mir, unterdrückt sein stolzes Lächeln und nimmt noch einen Schluck von der Schorle. Mir wird ein angenehm fester Händedruck angeboten, bevor sich Rojhat Doski, der 24-jährige Manager von Viertelmusik, einem Plattenlabel, bei dem Sic4rio auch Mitglied ist, neben uns hinsetzt. Auch er ist aus dem Quartier und gründete 2018 04 Musik, eine Plattform für aufstrebende Artists. Mit der Zeit entwickelte sich die Plattform zum Plattenlabel, wo heute auch Künstler*innen aus anderen Stadtteilen mitarbeiten.

Ich bin beeindruckt von den beiden und ihrer «Einfach mal machen»-Mentalität, egal wie schlecht die Bedingungen sind, egal wie stark der Anthrazit dieser Betonsiedlung sich in die Seele eingefressen hat. Hauptsache nicht stillstehen, wenigstens versuchen. Sic4rio hat nicht vor, sich für den Mainstream zu verbiegen. «Sorry, ich muen da schnell arrogant werde, aber mini Zahle spreched für sich», sagt er, als ich ihn frage, ob es nicht schwer ist, mit Strassenrap in der Schweiz wirklich Fuss zu fassen. Der Zürcher hat damals mit dem Rappen angefangen, um das zu «representen», was ihn betrifft. Er hat angefangen, weil er davon überzeugt war, dass er besser rappen kann, als die privilegierten Künstler*innen, die lange Zeit die Szene prägten. Jetzt ist Sic4rio im Game, und er ist gekommen, um zu bleiben.