Auch Stanley, eine künstliche Intelligenz, hat Angst vor dem Tod. Die KI wurde so programmiert, dass man mit ihr über das Sterben reden kann.

Das Ende in die Mitte denken

Kulturreportage — Ein Sommerfestival macht das Sterben zum Thema – mit diversen Ausstellungen, Aufführungen, Podien und Workshops. Und rückt damit das Leben in ein neues Licht.

29. September 2023

Die Hitze drückt auf die Haut, das Flussufer ist rappelvoll, Dosen zischen und Bässe dröhnen, die Nächte sind lang. In den Sommermonaten wird Zürich zu einer pulsierenden Minimetropole und lockt die Menschen mit zahlreichen kulturellen Angeboten nach draussen, etwa mit Freiluftkinos, Konzerten, Märkten und Quartierfesten. Auch ich werde an diesem heissen Wochenende ein Festival besuchen, doch dieses hebt sich vom typischen Sommerfest ab. Vielmehr geht es dabei um eines der grössten Tabus unserer Gesellschaft: «Hallo, Tod!» heisst das Kulturfestival, welches vom 24. bis 27. August das Schweigen über den Tod brechen will.

Das Festival findet bereits zum zweiten Mal statt und wird von der «Kulturbande» organisiert, einem Verein, der sich mit gesellschaftlichem Wandel beschäftigt. Als ich Freund*innen vom Festival erzähle, merke ich schnell, wie sehr der Tod auf Unbehagen stösst. Die Reaktionen sind verdutzte bis erschrockene Blicke, verständlich, auch mich stimmen die Wörter «Tod» und «Festival» im selben Satz skeptisch. Doch ich frage mich, warum es in der sommerlichen Leichtigkeit einen Diskurs über unsere Vergänglichkeit braucht.

Der Tod hat im Alltag keinen Platz

«Wir wollen aufzeigen, dass der Tod uns alle angeht», sagt Gabriela Meissner über die Hintergründe von «Hallo, Tod!». Sie ist Kommunikationsverantwortliche des schweizweit einzigartigen Kulturfestivals. In der heutigen Gesellschaft hätten wir den Tod aus unserem Leben verdrängt, fügt sie an. Mit der Loslösung von Religion seien mit dem Tod verbundene Rituale verloren gegangen, und anders als früher werde heute nicht mehr von der Kirche vorgegeben, wie mit Abschied und Trauer umgegangen werden soll.

Ausserdem habe die moderne Medizin dazu geführt, dass der Tod heute vor allem im Spital stattfindet, anstatt zu Hause: «Wir haben die Sterbebegleitung in die Hände der Ärzt*innen gegeben», erklärt sie, «und so kommen Menschen, die nicht unmittelbar davon betroffen sind, überhaupt nicht mehr mit dem Sterben in Berührung.» Das Festival, das sich an unterschiedlichen Orten Zürichs abspielt, will neue Berührungspunkte schaffen und eine Plattform bieten, wo Menschen ihren individuellen Umgang mit dem Tod finden können. Erster Standort: Friedhof Sihlfeld.

Die Friedhofsgärtner grüssen mich, als ich das grosse Eingangstor betrete. Noch ist es früh, trotzdem brennt die Sonne schon im Nacken. Auf dem Friedhof sind Kunstinstallationen verteilt, die den Tod auf unterschiedliche Weise sichtbar machen sollten. So zum Beispiel eine Konstruktion aus Fäden mit vielen daran befestigten weissen Stoffzetteln, die leicht im Wind flattern. Darauf geschrieben stehen jeweils Name, Alter und Todesursache von Menschen, die auf der Flucht verstorben sind. Auf den meisten lese ich: «Name unbekannt, ertrunken». «Beim Namen nennen» heisst die Aktion, die mit diesem Mahnmal der vielen Opfer unter Geflüchteten gedenken will, indem sie deren ungeheure Anzahl vor Augen führt.

In der sargförmigen Holzkabine wurde ein Kurzfilm über Menschen gezeigt, die dem Tod durch ihre Arbeit täglich begegnen.

Unweit dieser aufwühlenden Gedenk- und Protestaktion hat sich Künstlerin Sarah Elena Schwerzmann mit dem Tod im Alltag beschäftigt. Schon von weitem fällt die schwarze, sargförmige Holzkabine auf, worin die Künstlerin ein kleines Kino für ihren Kurzfilm eingerichtet hat. Der Film porträtiert drei Menschen, die dem Tod täglich begegnen: Einen Tatortreiniger, eine Forensikerin und einen Gerichtsmediziner. Sie erzählen in Videosequenzen, die bei jedem Abspielen durch einen Algorithmus zufällig zusammengeschnitten werden, von ihrem Arbeitsalltag. Die zufällige Anordnung der Szenen  solle dabei die Willkür von Leben und Tod widerspiegeln, erklärt mir die Künstlerin.

Vom Sargkino schlendere ich zur Friedhofskapelle, wo ich auf eine Installation der besonderen Art stosse. Denn hier steht «The Feeling Machine», eine künstliche Intelligenz mit virtuellem Gesicht, die so programmiert wurde, dass man mit ihr über den Tod und alle damit verbundenen Themen sprechen kann. Ich plaudere kurz mit Stanley – so heisst die Maschine mit Namen – und erfahre, dass offenbar auch künstliche Intelligenzen Angst vor dem Tod haben. Danach verlasse ich den Friedhof wieder, beeindruckt, auf wie viele Arten man sich mit dem Tod befassen kann, irgendwie aber auch überfordert.

Workshops über Beerdigungen

Diese interdisziplinäre Gestaltung des Festivals soll gewährleisten, dass für jede*n einen passenden Ansatz zum Thema dabei ist. «Traditionellerweise hat der Tod seinen Ausdruck oft in der Kunst gefunden, daneben wollten wir aber auch ganz informative Ansätze bieten, wie man sich damit befassen kann», sagt Meissner. Damit meint sie die verschiedenen Podiumsdiskussionen und Kurse, die während dem Wochenende in den Kulturhäusern Karl der Grosse und in der Helferei stattfinden. Man kann sich zum Beispiel in interaktiven Workshops Gedanken über die eigene Beerdigung machen, oder auch lernen, wie man seine Patientenverfügung schreibt.

Das finde ich alles sehr wichtig, fühle mich zugleich aber nicht ganz angesprochen. Ich bin noch zu jung für die Konfrontation mit dem Lebensende, rede ich mir ein. Meissner hält dagegen: «Es ist eine Illusion, zu glauben, dass der Tod nur im Alter stattfindet. Uns war wichtig, dass sich auch junge Leute mit dem Tod befassen.» Auf dem Friedhof Sihlfeld zeigen deshalb drei Kurzfilme die Realität einer Gruppe Jugendlicher: Sie verarbeiten darin den Suizid ihrer Freundin. Daneben werden am Festival auch neuere Phänomene thematisiert, etwa in einem forschungsbasierten Vortrag über den Umgang mit Tod, Trauer und mentaler Gesundheit in den sozialen Medien. «Viele jüngere Menschen nutzen die digitalen Plattformen, um ihre Krankheit oder ihr Sterben zu dokumentieren», so Meissner. Sogar ein Puppentheater für Kinder spricht spielerisch den Tod an. Besonderen Wert wird auch auf den Austausch zwischen Hinterbliebenen gelegt. In einem «Erzählcafé» können Jugendliche, die einen Elternteil verloren haben, ihre Erfahrungen miteinander teilen. Dieses Angebot sei rege genutzt worden, sagt Meissner, «und allgemein habe ich gespürt, dass die Besucher*innen das grosse Bedürfnis haben, zu reden.»

«Ich erlebe es als sehr wohltuend, sich häufig mit dem Tod zu befassen.»
Bitten Stetter, Designerin und Professorin für Trendforschung an der ZHdK

Tatsächlich beobachte ich im Kulturhaus Helferei, wie sich die Menschen bei kostenlosem Kaffee und Kuchen über den Tod unterhalten. Hier treffe ich auch auf Bitten Stetter. Sie ist Designerin und Professorin für Trendforschung an der Zürcher Hochschule der Künste. In ihrer Arbeit setzt sie sich kreativ mit dem Lebensende auseinander. «Ich habe selber einen nahestehenden Menschen im Spital gepflegt und dabei gemerkt: aus einer Design-Perspektive stimmt hier etwas nicht», erinnert sich Stetter. In vulnerablen Zeiten beschränke sich der persönliche Raum oft auf das Bett, erklärt sie, «und es fehlen viele Hilfsmittel, diesen als eigenen Lebensraum zu gestalten».

Ästhetik ist wichtig beim Sterben

Im Anschluss hat die Designerin vier Jahre lang in der Palliativpflege gearbeitet und die Bedürfnisse von Sterbenden erforscht. Ihre Erkenntnisse hat sie in die Marke «finally.» übersetzt, die am Festival einen kleinen Kiosk hat. Unter den Produkten finden sich bunte Pflegehemden, funktionale Taschen fürs Spital, spezielles Geschirr für kranke Menschen oder ein Mobile, ein frei hängendes Gebilde, für Fotos ans Spitalbett. «Im Spitalumfeld gibt man sehr viel von seiner Identität ab, denn alles sieht gleich aus», so Stetter. Ihre Produkte dienen der aktiven und persönlichen Gestaltung dieses letzten Lebens­abschnitts. Dabei sei die Ästhetik genau so wichtig wie die Funktionalität: «Aus meiner Sicht ist Ästhetik kein Luxusgut, sondern ein Mittel, mit dem wir kommunizieren können». Für die Zukunft plant die Designerin einen fahrbaren Kiosk für Spitäler, in dem sie ihre Produkte anbieten will.

Ich habe am Festival verschiedene Menschen getroffen, die sich täglich mit dem Tod beschäftigen. Was man sich als sehr bedrückend vorstellen mag, sehe ich durch die Erfahrungen meiner Gesprächspartner*innen aus einem anderen Winkel: «Ich erlebe es als sehr wohltuend, sich häufig mit dem Tod zu befassen,» sagt Bitten Stetter, es nehme ihr die Angst davor und bringe sie auf zentrale Fragen des Lebens. Auch Gabriela Meissner ist überzeugt, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit das Leben kostbarer macht.

Das Festival schliesst im Alten Krematorium auf dem Friedhof Sihlfeld mit einem Totentanz unter dem Motto «Memento Mori» – sei dir deiner Sterblichkeit bewusst. Drei Künstler*innen bewegen sich langsam durch die kühlen, hohen Räume des Friedhofsgebäude und feiern so das Leben und den Tod zugleich. Danach verlasse ich unter Nieselregen und grauem Himmel den Friedhof wieder, meiner Endlichkeit plötzlich sehr bewusst. Damit kommt aber auch ein Gefühl von Unbe­schwertheit, von Aufbruch. Das Kulturfestival begrüsst hemmungslos das Sterben, ist dadurch aber weder bedrückend noch trist, sondern viel eher lebensbejahend.