Die neue Prothese informiert das Gehirn via elektrische Signale über Druckveränderungen.

Wenn sich das Gehen wieder natürlich anfühlt

Aus der Forschung — Ein ETH-Forschungsteam hat eine neue Beinprothese entwickelt. Sie könnte das Leben mit Amputation merklich verbessern.

Serafin Jacob (Text) und Salomon Aengenheyster-Aber (Illustration)
28. September 2023

Künstliche Gliedmassen wurden schon im alten Ägypten eingesetzt, und raffinierte Konstruktionen finden sich bereits im frühen neunzehnten Jahrhundert, zum Beispiel die von der Feinmechanikerin Caroline Eichle entwickelte Beinprothese, deren Kniegelenk beweglich war und somit vergleichsweise angenehmes Laufen und Treppensteigen ermöglichte. Mit der Verbreitung von Mikroprozessoren und modernen Materialien wurden immer komplexere und effizientere Prothesen möglich. So vertreten manche Wissenschaftler*innen beispielsweise die Meinung, dass die Beinprothesen des Sprinters Oscar Pistorius ihm beim Rennen einen Vorteil verschaffen.

Die natürliche Empfindung
wiederherstellen

Im Alltag sind Kunstglieder jedoch noch weitaus weniger praktisch als natürliche Körperteile. Laufen wird zu einer anstrengenden Tätigkeit,
die Feinmotorik ist für filigrane Tätigkeiten zu wenig ausgereift, und selbst wenn die motorischen Fähigkeiten wiederhergestellt werden können, fehlt immer noch das Gefühl in den Beinen. Im Vergleich zum
schnellen Fortschritt bei Handprothesen stockt die Forschung bei Beinpro­thesen.

Ein Forschungsteam bestehend aus Wissenschaftler*innen der ETH veröffentlichte vor wenigen Wochen einen Vorabdruck ihrer neuen Forschungsresultate, in dem sie eine optimierte Beinprothese vorstellen. Die bisherigen Apparaturen stimulieren die Nerven entweder nicht oder durchgehend unterschwellig. In beiden Fällen fällt es den Betroffenen schwer, den Ersatz als Teil ihres Körpers zu sehen. Dies kann zu Phantomschmerzen führen: Dort, wo einmal das Bein war, fühlt man unangenehme Empfindungen. Auch Alltagsbewegungen sind deutlich fordernder als bei Menschen ohne Prothesen, vor allem,
da keine Rückmeldung seitens des Beins kommt. Genau dieses Problem haben die Wissenschaftler*innen ins Visier genommen, mit dem Plan, eine Prothese zu entwickeln, die natürliche Empfindungen beim Laufen wiederherstellt.

Für diese Aufgabe simulierten sie zuerst in einem Computermodell, wie eine Verformung des Fusses durch die Nerven weitergeleitet wird. Zur Veranschaulichung: Wenn man seinen Fuss auf dem Boden kreisen lässt und dabei jeweils einen Teil in der Luft hält, bemerkt man, wie unterschiedlich sich die verschiedenen Bereiche anfühlen. Um zu verstehen, wie künstliche Stimulation in Nervenimpulse übersetzt wird und wie diese dann zum Gehirn weiterwandern, wurde bei zwei Katzen operativ ins Gehirn eingegriffen, sodass nur noch ihre Reflexe erhalten blieben und selbständige Bewegungen unmöglich wurden. Danach wurden mittels leichter Stromstösse und einem Wattestäbchen Reize ausgeübt und die Aktivität im Nervensystem der Tiere gemessen.

Die so gewonnenen Einsichten darüber, wie Druck durch elektrische Impulse imitiert werden kann, wurden daraufhin an drei Proband*innen verifiziert. Alle gaben an, dass sich die gezielte Stimulation deutlich natürlicher anfühle als durchgehende elektrische Impulse.

Somit war die Grundlage für die praktische Implementierung geschaffen. Bei der neu vorgestellten Prothese leitet eine mit Drucksensoren ausgestattete Sohle die auf den Fuss ausgeübte Kraft in das künstliche Knie weiter, wo ein Mikroprozessor das mechanische Signal in ein elektrisches umwandelt, welches über Elektroden an die Nerven im nicht amputierten Oberschenkel übertragen wird.

Schneller und sicherer
dank Feedbackmechanismus

Wie jede wissenschaftliche Neuerung musste auch diese Erfindung im Experiment reüssieren. Hierzu sollten die Proband*innen erst Treppen laufen und danach während dem Gehen ein kurzes Wort rückwärts buchstabieren. In beiden Versuchen schnitt die neu entwickelte Prothese mit angepasstem Feedback besser ab als die dauerhaft stimulierende Alternative. Insbesondere konnten die Versuchspersonen schneller und sicherer Treppen laufen sowie deutlich korrekter buchstabieren. Dies weist da­rauf hin, dass die mentale Anstrengung beim Gehen reduziert wurde. Mit Prothesen wie dieser können in Zukunft womöglich Menschen mit Amputationen ein einfacheres Leben zurückerhalten.

Es wird wahrscheinlich noch lange dauern, bis dieses künstliche Bein das Licht der Öffentlichkeit sieht. Doch die Welt der Prothesen entwickelt sich rasant weiter. Moderne Kunsthände spielen bereits Klavier und schreiben Kalligraphie. Damit einhergehend wird die Grenze zwischen Menschen und Maschinen immer dünner,
und es ist leicht vorstellbar, dass ein bionisches Bein, das keine Arthritis bekommen kann, in absehbarer Zeit unserem natürlichen  Körper überlegen ist.