Bruce Springsteen hat seine erste Platte vor mehr als fünfzig Jahren herausgebracht.

Sterblicher Rock-Gott

Drei Stunden rockt Bruce Springsteen das ausverkaufte das Stadion Letzigrund. Und macht dabei den Tod zum Leitmotiv.

Anahí Frank (Text) und Isaia Gisler (Bilder)
28. Juni 2023

Vor zwei Wochen habe ich nicht gewusst, dass man enttäuscht sein kann, wenn ein 73-jähriger Mann sein Hemd wieder zuknöpft. Oder dass es 73-Jährige gibt, die sich das Hemd aufreissen, drei Stunden über die Bühne springen und mich dabei fühlen lassen, als sei ich ein junger Fabrikarbeiter aus New Jersey, der heimlich in seinen besten Freund verliebt ist. Aber vor zwei Wochen war ich auch noch nie an einem Bruce Springsteen Konzert.

«I got a time bomb tickin' deep inside of me, tell you what I wanna say» singt Springsteen im ersten Lied «My Love Will Not Let You Down» und es könnte eine Ansage für das ganze Konzert sein. Das Leben ist kurz, aber die Musik lang und wenn es geht, spielen wir sie noch länger. Nahtlos reihen Springsteen und die E Street Band ein Lied an das nächste, querbeet durch sein ganzes Werk. Auf «My Love Will not Let You Down» aus den Achtzigern folgt «Ghost» aus seinem 2020 erschienenen Album «Letters to you». Letzteres ist genauso energetisch und melodisch eingängig wie das erste Lied. «I’m alive» ruft Bruce Sprinsteen im Chorus und begeistert singe ich mit.

Erst als ich in den Strophen genauer hinhöre, fällt mir auf, worum es eigentlich geht: Der Erzähler im Lied meint das Gitarrenspiel und die Schuhabsätze eines verstorbenen Freunds zu hören. Doch der Erzähler will seinen toten Freund nicht auf die Seite der Lebenden ziehen und sehnt sich stattdessen danach, selbst übertreten zu können: «I turn up the volume, let the spirits be my guide, meet you brother and sister on the other side», singt Springsteen in der letzten Strophe. Der Ausruf, am Leben zu sein, klingt so gleichermassen wie ein Freudenruf und ein Einsamkeitsgeständnis.

Der letzte Überlebende seiner ersten Band

Doch zumindest auf der Bühne ist der «Boss», wie ihn seine Fans hingebungsvoll nennen, nicht allein. Mit dem Gitarristen Steven van Zand teilt er viele zärtliche Momente, ins gleiche Mikrofon singend, die Arme um den Nacken gelegt. Während den Instrumentals dreht der seinen Rücken zum Publikum, um die Band zu dirigieren oder ihnen mit ausgebreiteten Armen zuzuhören. Seit 10 Jahren gehört auch der Saxophonist Jake Clemons dazu. Er ist der Neffe des «Big Man» Clarence Clemons, der von 1972 bis zu seinem Tod 2011 das Saxophon in der E Street Band spielte. Doch Jake Clemons scheint in diesen grossen Schuhen alles andere als zu versinken. Souverän spielt er die grossen Hits wie «Badlands» und «Born to Run» Note für Note und lebt sich in älteren, jazzigeren Stücken wie «Kitty’s Back» improvisatorisch aus.

Bruce Springsteen und Steven van Zandt haben sich als Teenager in New Jersey kennengelernt.

Still wird es auf der Bühne erst nach eineinhalb Stunden. Mit einer akustischen Gitarre in der Hand erzählt Springsteen, wie der Freund seiner Schwester ihn in seine erste Band aufnahm. Die «Castile» sind drei Jahre zusammengeblieben – eine halbe Ewigkeit für Teenager, meint Springsteen. Ein halbes Jahrhundert später ist Springsteen das einzige überlebende Bandmitglied und singt darüber in «Last Man Standing». Von einer einzigen Trompete begleitet, rutscht dieses akustische Intermezzo leider etwas ins Melodramatische ab.

Romantische Männerfreundschaft

Kaum sind die letzten Akkorde von «Last Man Standing» verklungen, stimmt der Pianist Roy Bittan eine vertraute Melodie an: «Backstreets», eine Ballade vom «Born to Run»-Album. Die Melodie scheint zunächst auf ein trauriges Ende zuzustreben, bevor die ganze Band einsetzt und das Lied mit pulsierender Energie füllt. Springsteen besingt die Eskapaden zweier Jugendfreund*innen (das Geschlecht von Freund*in «Terry» bleibt unbekannt), die sich vor gesellschaftlichem Druck in Hinterstrassen und verlassene Strandhäuser flüchten.

Die Intimität – «slow dancing in the dark» - und die leidenschaftlichen Beschreibungen – «with a love so hard and filled with defeat» – suggerieren eine romantische Beziehung, während die beschriebenen Saufgelage und Autorennen an eine stereotype Männerfreundschaft erinnern. Springsteen selbst scheint an diesem Abend an seinen verstorbenen Bandkollegen zu denken. Als die Musik wieder leiser wird, schliesst er die Augen und zählt auf, was ihm geblieben ist: «I got the guitar you kept beside your bed and the photo of the two of us on your wedding day. And the rest I’ll keep right here.» Er legt die Hand aufs Herz und stimmt den Chorus an: «until the end».

Auf den emotionalen folgt der rockige Höhepunkt. Mit einem Medley aus «Born in the U.S.A»-Hits bringen der Boss und seine Band auch die etwas zurückhaltenden Konzertbesucher*innen zum Mitsingen. Dabei geht zwar die politische Brisanz in «Born in the U.S.A.» verloren, oder die Melancholie in «Dancing in the Dark», doch die freigesetzte Energie macht diese Nuancen mehr als wieder wett. Vor der Zugabe lässt es sich Springsteen nicht nehmen, die Band ordnungsgemäss zu präsentieren: «You’ve just seen the heart-stopping (…) Booty-shaking, Viagra-taking, love-making, legendary E Street Band!». Auch als Rock-Gott zeigt sich Springsteen seiner Sterblichkeit bewusst. Wer hätte gedacht, dass das so sexy ist?

Es heisst, dass Springsteen den Übernamen «Boss» erhielt, weil er nach den Konzerten die Gage einsammelte und den Bandmitgliedern auszahlte.