An der ersten Produktion von Copper Tongues wirken sieben Kunstschaffende mit. Oben v.l.n.r.: Désirée Wenger, Andrin Albrecht, Lerie Pemanagpo, Ximena Sánchez, unten v.l.n.r.: Luana Fitzgerald, Dœlma Goldhorn, Olivia Fischer.

«Ein Kuss wird auf die Sekunden abgezählt»

Drei ehemalige Anglistikstudierende der Uni Zürich haben einen mehrsprachigen Theaterverein gegründet. Anfang Juni präsentieren sie ihr erstes Stück. Über die Begleitung von intimen Szenen auf der Bühne und die Angst vor künstlicher Intelligenz in der Kultur.

Leah Süss (Text und Bilder)
24. Mai 2023

Euer Theaterverein Copper Tongues ist «multilingual». Was bedeutet das konkret?

Andrin Albrecht: Im Studium haben wir mit englischsprachigem Theater angefangen, aber wir wollten nicht dabei bleiben. Alleine im vierköpfigen Vorstand sprechen wir sieben Sprachen – und dazu kommen dann jeweils die Sprachkenntnisse der Schauspieler*innen! Unsere Erstproduktion wird auf Englisch sein, doch später können wir uns auch Stücke in anderen Sprachen vorstellen, zum Beispiel auf Spanisch oder Französisch. In einer internationalen Stadt wie Zürich und einem viersprachigen Land wie der Schweiz macht ein mehrsprachiger Theaterverein Sinn.

Es gibt in Zürich bereits eine breit aufgestellte Theaterszene. Wie hebt ihr euch ab?

Ximena Sánchez: Wir sind eine diverse Gruppe und schreiben unsere Stücke selbst. Vor allem sind wir transparent, was unsere Arbeitsbedingungen betrifft und schauen auf die psychische Gesundheit des ganzen Teams. Das ist an wenigen Theatern hier der Fall.

Andrin Albrecht: Wir haben auch alle Erfahrungen in anderen Ländern gesammelt – etwa in Australien, Argentinien, Italien oder New York. So haben wir gemerkt, dass einige Elemente aus der internationalen Theaterszene in Zürich fehlen. Etwa die professionelle Begleitung von intimen Szenen. Das ist bei uns selbstverständlich.

Euer erstes Stück «Assistant» ist eine Eigenproduktion, die mithilfe von ChatGPT konzipiert wurde. Wieso diese Entscheidung?

Ximena Sánchez: Über künstliche Intelligenz wird viel gesprochen, aber eine Auseinandersetzung mit dem Thema fehlt bisher im Theater. In der Filmindustrie ist es bereits verbreitet, Texte mit Unterstützung von KI zu schreiben!

Andrin Albrecht: In vielen kreativen Bereichen ist mit diesem Thema eine grosse Angst davor verbunden, inwieweit KI traditionelle Kunst ersetzen kann. Es gibt am einen Ende des Spektrums eine Panik, dass sie alle Künste überflüssig machen könnte. Auf der anderen Seite meinen einige, dass KI gar keinen künstlerischen Wert habe. Wir versuchen mit unserem Stück, einen Mittelweg zu gehen. Es ist keine dystopische Black-Mirror-Geschichte, sondern setzt sich bewusst realistisch mit dem Thema auseinander. Nicht die Technologie selbst steht im Mittelpunkt, sondern es geht um die Angst davor und wie diese das Leben von Kunstschaffenden beeinflusst.

Am Anfang des Projekts sind zwei Schauspieler*innen spontan abgesprungen. War es schwierig, Ersatz zu finden?

Ximena Sánchez: Im Gegenteil! Tatsächlich haben sich für die zwei Rollen mehr als 20 Schauspieler*innen beworben. Obwohl wir für die erste Produktion keinen Lohn auszahlen können. Das hat uns enorm gefreut. Schliesslich haben wir uns für zwei erfahrene Schauspielerinnen und eine Bewerberin ohne vorherige Theatererfahrung entschieden. Erst dann wurde auch klar, dass im ersten Stück nur Frauen spielen werden.

Die Produktion zeigt eine queere Beziehung. Um diese zu spielen, werden die Schauspielerinnen von einer Intimitätskoordinatorin unterstützt. Gleich zwei von euren vier Vorstandsmitgliedern sind dafür ausgebildet. Was beinhaltet eine solche Begleitung?

Ximena Sánchez: Die Koordinierung von intimen Szenen ist in Filmen und Theatern in den USA und Kanada bereits normal. Dort ist es obligatorisch, dass die Beteiligten allen Aktionen zustimmen und ihre Grenzen setzen können. Jede Handlung wird genau getaktet; ein Kuss wird auf die Sekunden abgezählt und nichts kommt überraschend. Das kann man sich analog zur Einübung von Kampfszenen vorstellen. In der Schweiz ist die Koordination von Intimität kaum ein Thema: Es gibt im ganzen Land neben mir und Désirée nur einen Intimitätscoach und eine weitere Person in Ausbildung.

Andrin Albrecht: Intimität meint übrigens nicht nur Sexszenen, sondern jegliche Berührungen und selbst emotional verletzende Aussagen. Es geht darum, dass sich Schauspieler*innen bei Proben und Aufführungen jederzeit wohl fühlen können.

Selbst bei Interaktionen ohne Berührungen kann Intimität entstehen: Olivia Fischer und Dœlma Goldhorn während der Probe für die Erstproduktion «Assistant».

Ihr seid alle hauptberuflich in anderen Funktionen tätig, etwa als Theaterlehrperson oder Doktorierende. Die Kosten eurer ersten Aufführung soll ein Crowdfunding decken – ohne, dass jemand einen Lohn erhält. Wie wollt ihr euch langfristig finanzieren?

Andrin Albrecht: Für die erste Produktion war unser Ziel, kein Geld zu verlieren. Langfristig wollen wir aber alle Beteiligten angemessen bezahlen können. Unsere Hoffnung ist, dass wir nach einer erfolgreichen Erstproduktion für Förderbeiträge zugelassen werden.

Wenn alles klappt, wo seht ihr euch in einem Jahr?

Andrin Albrecht: Im besten Fall läuft die erste Produktion gut und wir können sie schweizweit und zum Beispiel auch in Schulen aufführen. In einem Jahr sind wir dann hoffentlich an der nächsten Produktion und in zehn Jahren können wir vielleicht davon leben! Unser Traum wäre es, irgendwann nur noch bei Copper Tongues zu arbeiten und damit auch international Anklang zu finden.

Ximena Sánchez: Im besten Fall klappt es schon in fünf Jahren (lacht). Wir haben diesen Januar angefangen und spüren bereits ein sehr grosses Interesse aus der Kulturszene. Das stimmt mich hoffnungsvoll.

Über die Erstproduktion:

«Assistant» wird am 3. und 4. Juni im Zürcher Theater Stok im Rahmen einer Werkschau aufgeführt. Das Stück wurde von Vorstandsmitglied Olivia Fischer mithilfe von ChatGPT geschrieben und zeigt den Einfluss von künstlicher Intelligenz auf das Leben dreier Kunstschaffenden. Die drei weiteren Vorstandsmitglieder von Copper Tongues wirken als Regisseurin, als Intimitätskoordinatorin sowie als Komponist mit.

Über den Verein:

Die vier Gründungsmitglieder von Copper Tongues haben nach dem Studium in Film-, Theater-, Musik- und Schreibprojekten auf vier Kontinenten mitgewirkt. Désirée Wenger, Olivia Fischer und Andrin Albrecht waren während des Anglistikstudiums zwischen 2016 und 2021 an der Uni Zürich in der Theatergruppe Blueprint Masquerades aktiv. Ximena Sánchez ist dieses Jahr nach einem internationalen Intimitätskoordination-Workshop zur Gruppe gestossen.