Strassenkämpfe im Zürcher Rotlichtviertel

Kulturspalte

10. Mai 2023

Musical — Vom 13. bis 16. April lief das Musical «Chreis Cheib» unter der Leitung des Kulturbogens Zürich im Kulturhaus Dynamo. Die Atmosphäre der Langstrasse in den 1970er-Jahren vermittelten die jungen Darstellenden vor allem gesanglich überzeugend. 

Wir befinden uns an der berüchtigten Stras-se im Kreis 4, auch Chreis Cheib genannt. In den 1970ern spukt hier, wie auch im Rest der Schweiz, das Schreckgespenst der Überfremdung, welches in der Schwarzenbachinitiative gipfelt, die den Ausländer*innenanteil in der Schweiz auf zehn Prozent der Bevölkerung reduzieren will. 

Die Familie Nascosto muss ihre 17-jährige Tochter Fabrizia in ihrer Wohnung verstecken, denn wenn sie als sogenanntes Kastenkind entdeckt wird, droht die Ausschaffung der gesamten Familie. Nicht nur der Nachbar mit dem Edelweisshemd ist darauf erpicht, auch seine Freunde vom Stamm schieben die Schuld für ihre Kündigungen den eingewanderten Italiener*innen in die Schuhe. Von ihrem Wunsch nach Freiheit und Musik getrieben, landet Fabrizia mitten im Trubel der Langstrasse, der sich unter ihrem Zimmerfenster abspielt. 

Sie irrt im Rotlichtviertel herum und trifft auf andere italienische Jugendliche, die sich mit Schwarzenbachanhänger*innen Strassenkämpfe liefern. Wir lernen eine Obdachlose kennen, die uns Berndeutsch reimend durch den Abend führt. Die Akkordeonspielerin Laura hält sich mit Strassenmusik und mit bei Gemüsehändler*innen geklauten Äpfeln über Wasser. Einzig die Gutmenschen vom Platzspitz lassen klirrende Münzen in ihren Hut fallen. Sie alle verleihen dem Chreis Cheib Leben. Mehr als zwei Dutzend Laienkünstler*innen und eine professionelle Band beglückten die Zuschauenden drei Stunden lang mit dem unterhaltsamen Musical. 

Die in die Länge gezogenen Tanz- und Schauspielszenen büssten teilweise an Charme und Spannung ein, und nicht alle Darstellenden vermochten gleichermassen zu überzeugen. Die stimmungsvolle und gesanglich hochstehende Interpretation von bekannten Mundarthits aus der Niederdorfoper oder von bekannten Künstler*innen wie Dodo, Faber und Phenomden machten dies aber wieder wett. 

Die Intendant*innen holten die Vielfalt der Langstrasse und deren Charaktere auf die Bühne des Zürcher Jugendkulturhauses Dynamo (wohlgemerkt an der Limmat im Kreis 6). Die Tragik der Kastenkinder und deren Isolation wurde dabei allerdings von Geschichten über Gewalt, Drogen, Armut und Fremdenhass überspielt. So verlor die immer noch zeitgemässe Thematik etwas an politischer Substanz. 

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Das Musical «Chreis Cheib» lief vom 13. bis 16. April im Zürcher Kulturhaus Dynamo.