Wie soll man mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg umgehen?
Diese Frage spaltete die Gemüter der Zürcher Studierenden in der Nachkriegszeit.
Die Zürcher Studierenden überstehen im Herbst 1945 ihr letztes Kriegssemester, die Schweiz bleibt eine Demokratie und beim «Zürcher Student», dem Vorgänger dieser Zeitung, schreibt man weiterhin fleissig Texte.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs hat bei Schweizer Studierenden Neugierde darüber ausgelöst, wie es sich in den Nachbarländern inzwischen wohl zutragen mag. Der internationale Austausch nimmt ab 1946 zu, und besonders die Beziehung zu deutschen Universitäten wird wieder gefördert. Die günstige Gelegenheit nach sechs Jahren Abschottung vom Ausland, Luft an ausländischen Universitäten zu schnuppern, entpuppt sich für Schweizer Studierende nicht nur als glückliche Fügung, sondern geradezu als Notwendigkeit, da man, so schreibt es die Redaktion des «Zürcher Student», «beinahe zu ersticken drohte». Weitere Texte aus der Nachkriegszeit bekunden, dass man sich unter den Studierenden vor allem in einer Sache uneinig ist: wie man fortan mit Deutschland umgehen soll.
Mit Filmmaterialien und Plakaten, die Bilder aus Konzentrationslagern zeigen, versuchen die Alliierten der deutschen Bevölkerung ihre Mitverantwortung an den Verbrechen des Dritten
Reiches vor Augen zu führen. Im November 1945 beginnen die Nürnberger Prozesse. Doch nur wenige Deutsche sprechen derzeit von einer «Kollektivschuld». Auch unter den deutschen Studierenden wehre man sich gegen diese Vorstellung, berichten Schweizer*innen nach ihrem Auslandsaufenthalt. In deutschen Zeitungen stünde: «Man wirft uns deutschen Studenten heute vor, wir hätten Hitler Gefolgschaft geleistet. In Wahrheit aber hat allerhöchstens ein Prozent der deutschen Studenten das Buch ‹Mein Kampf› überhaupt gelesen!»
Das Thema sei heikel, schreibt ein Schweizer Kommilitone im April 1946 in einem Beitrag des «Zürcher Student». Um jedes Missverständnis auszuschliessen, wolle er sich bei seinen Ausführungen auf persönliche Eindrücke stützen und dabei von seiner zehntägigen Reise nach Heidelberg und dem gedanklichen Austausch mit deutschen Studierenden berichten. Er schreibt: «Die deutschen Studenten sind von einer sonderbaren Romantik, und deshalb politisch uninteressiert. Genau so wenig, wie sie 1933 ‹Mein Kampf› gelesen haben, genau so wenig lesen sie heute die Berichte über den Nürnberger Prozess.»
Von Deutschland könne man nichts lernen
Die Schweiz empfiehlt ihren Studierenden in dieser Zeit den universitären Austausch nach Deutschland zu nutzen, um der deutschen Bevölkerung die schweizerisch-demokratische Lebensart vorzuleben und ihnen so zu helfen, einen Weg aus der politischen Apathie zu finden.
Dass nicht alle von dieser Idee begeistert sind, zeigt der im «ZS» abgedruckte Text «Los von Deutschland» des Zürcher Medizinstudenten Adolf Vinzenz Guggenbühl, der sich gegen den Austausch mit deutschen Universitäten ausspricht, und damit später bei seinen Schweizer Kommiliton*innen auf Empörung stösst. Laut Guggenbühl besteht für Schweizer Studierende die Gefahr, dass man von der deutschen «Zusammenbruchsmentalität» angesteckt und «im besten Fall an Ideen und Anregungen genauso arm» wie beim Verlassen der Schweiz wieder zurückkehrt. Zwar könne man diese traurige Lage des Gastlandes studieren, aber lernen werde man davon nichts. Auf seine Empfehlung hin soll man lieber zwei Semester an einer englischen Universität verbringen, «wo nicht jedes Gesicht und jedes Haus den Geist des Zusammenbruchs atmet», und bereichert in sein Land zurückkehren, denn das deutsche Volk irre schliesslich kulturell völlig ratlos «im Nichts herum».
Zwei Tage nach Erscheinen dieses Textes im Oktober 1946 liegt eine Postkarte mit dem Schriftzug «An die Redaktion des ‹Zürcher Student›, Künstlergasse 15, Zürich» auf dem Redaktionstisch: «Etwas so Einfältiges wie den Artikel ‹Los von Deutschland› von Adolf Vinzenz Guggenbühl habe ich lange nicht mehr gelesen! Sollten zu wenig Schreiben eingehen, die dagegen Stellung beziehen, bitte ich um Nachricht; dann werde ich ein paar freie Minuten suchen und ein paar Zeilen schreiben. Mit kameradschaftlichem Gruss: Carl E. Eder.»
Die Redaktion kann sich vor Einsendungen kaum retten. Kritiken zu Guggenbühls Text häufen sich dermassen, dass man Schwierigkeiten hat, eine knappe Auswahl für die nächste Ausgabe des «Zürcher Student» zu treffen. Der Philosophiestudent Pio Eggstein schreibt zu Guggenbühls Gedanken: «Die Unterstützung anderer Länder darf in Deutschland nicht den Boden für eine neue nationalistische Bewegung hergeben. Es geht vielmehr darum, die in jeder Beziehung wertvollen Studenten zu fördern, dass ihr Einfluss in der deutschen Studentenschaft massgebend wird. Und dies kann nur durch persönlichen Kontakt geschehen.»