Auch eine Therapie kann da nicht viel helfen: Studierende, die einen Nachteilsausgleich brauchen, sind auf die Genehmigung ihres Gesuchs angewiesen.

Studierende mit Behinderung stossen bei der Uni auf wenig Gehör

Hochschulpolitik — Obwohl die Uni Nachteilsausgleiche anbietet, werden manche Gesuche nicht berücksichtigt oder abgelehnt. Die Unileitung weiss davon nichts.

Sepinud Poorghadiri (Text) und Anna Niederer (Illustration)
9. Mai 2023

Für Julie D., die ihren Uni-Alltag um die Diagnose ADHS gestaltet, ist die bevorstehende Prüfungsphase dieses Semester besonders stressig. Ihr Nachteilsausgleich (NTA), eine notwendige individuelle Anpassung der Prüfungsbedingungen, die Studierende mit Behinderunge beantragen können, steht nämlich noch aus. Hierbei handelt es sich nicht um einen Einzelfall: Mehrere Studierende der Philosophischen Fakultät berichteten dieses Semester von verspäteten oder negativen Entscheiden betreffend ihres Nachteilsausgleichs. Zudem haben sich vor kurzem Institute der Philosophischen und Medizinischen Fakultät dazu entschieden, Podcasts und Livestreams, die seit der Pandemie ermöglicht sind, und für viele Studierende mit Behinderung eine grosse Hilfe darstellen, wieder abzuschaffen.

Zu wenig Ressourcen für die Fachstelle

Angesichts ihrer Diagnose wäre es in Julies Augen nur fair, wenn sie an Prüfungen mehr Zeit erhielte. Entsprechend reichte sie ihren Antrag fristgerecht und vollständig ein. Jedoch verstrich die Bearbeitungsfrist von vier bis sechs Wochen ohne jegliches Urteil. Auf Anfrage erfuhr sie, dass es dieses Semester wegen eines Krankheitsfalls an ihrer Fakultät bei der Bearbeitung von NTAs zu beträchtlichen Verspätungen kommen werde. Auch innerhalb der Philosophischen Fakultät kam es zu Krankheitsfällen. Chiara Bono, eine Ethnologie-Studentin, die an starkem ADHS leidet, berichtet von einer Verzögerung von rund zwei Monaten wegen krankheitsbedingter Abwesenheiten von Mitarbeitenden. Das sei für sie besonders belastend, da ihr Gesuch das Bereitstellen von Vorlesungsfolien oder Podcasts für Pflichtmodule beinhalte – Entscheide über NTAs, die eigentlich während des Semesters getroffen werden müssten.

Laura Galli, Co-Präsidentin des VSUZH, kritisiert: «Die Ressourcen der Fachstelle Studium und Behinderung (FSB) sind bereits ausgeschöpft und werden vonseiten der Uni nicht aufgestockt. Die Bearbeitung der Anträge dauert oft lange, kann aber nicht verschnellert werden, da es nur wenige Mitarbeitende gibt.» Auch würden NTAs teilweise nicht gewährt werden, obwohl sie notwendig wären. Genauso war es bei Bono: Auf Empfehlung der Student Services nahm sie Mitte Semester mit Jan Patrick Heiss, NTA- Ansprechperson ihres Institutes, direkt Kontakt auf. Er lehnte ihr Gesuch jedoch ab: Das Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft habe beschlossen, keine Podcasts der Vorlesungen mehr zur Verfügung zu stellen, da sich diese negativ auf die Interaktion in der Lehre auswirkten. Auch könne das Institut keine Vorlesungsfolien weiterreichen, da die Modulgestaltung Sache der Dozierenden sei. Wenn diese ihre schriftlichen Notizen nicht freigeben wollten, würde sich das Institut auch nicht einmischen, so Heiss.

«Studis werden faktisch und ohne jegliche Erklärung vom Studium ausgeschlossen.»
Sozialistische Mediziner*innen Schweiz

Für Bono ist das ein hartes Urteil: «Wenn ich das Pflichtmodul unter diesen Umständen nicht bestehe, weil ich wegen meiner kognitiven Einschränkungen mit Notizen nicht mitkomme, weiss ich nicht, wie ich meinen Bachelor abschliessen soll.» Zudem sei es wichtig zu betonen, dass es sich hierbei um Pflichtmodule handelt. «Studieninteressierte, die mit einer Behinderung leben, müssten bei der Studienwahl daher eigentlich prüfen, welches Studium für sie vonseiten der Uni überhaupt ermöglicht wird.» Das sei insbesondere problematisch, da die Uni dem Behindertengleichstellungsgesetz untersteht und somit verpflichtet ist, Personen mit Behinderung ein chancengleiches Studium zu ermöglichen.

Auch an der Medizinischen Fakultät wird momentan über Onlineangebote diskutiert. Nach dem Entscheid, Livestreams für angehende Mediziner*innen wieder abzuschaffen, lancierte das Kollektiv «Sozialistische Mediziner*innen Schweiz» im März eine Petition. Diese lief parallel zu einer fakultätsinternen Reevaluation der Thematik. Jedoch blieb das medizinische Dekanat bei seinem Entscheid. Das Kollektiv veröffentlichte daraufhin im April einen offenen Brief an das Dekanat. Dieses antwortete aber, dass es diesbezüglich nur mit den zuständigen Instanzen der Universität und nicht mit dem Kollektiv ins Gespräch treten würde. Für Mitglieder des Kollektivs ein klares Zeichen fehlender Transparenz: «Studis, die sich keine Wohnung in Uni-Nähe finanzieren können oder beeinträchtigt sind, und daher nicht in der Lage sind, vor Ort zu sein, werden so ohne jegliche Erklärung vom Studium ausgeschlossen.» Zudem widerspreche diese Entscheidung den Werten der Nachwuchsförderungsstrategie der Medizinischen Fakultät, in denen sie sich zu mehr Chancengleichheit verpflichten.

«Die Entscheidung, auf Aufzeichnungen zu verzichten, gründet vor allem in unserer Sorge um die Qualität der Lehre und die Qualität des Lernens.»
Annuska Derks, Programmdirektorin der Ethnologie

Für Annuska Derks, Programmdirektorin der Ethnologie, haben systematische Aufzeichnungen von Vorlesungen Auswirkungen auf die Qualität der Lehre: «Die Entscheidung, auf Aufzeichnungen zu verzichten, gründet vor allem in unserer Sorge um die Qualität der Lehre und die Qualität des Lernens.» Auch sie betont die Wichtigkeit der Interaktion: Der persönliche Austausch, ein zentraler Aspekt der Wissensvermittlung und Wissensaneignung, wird von systematischen Aufnahmen erschwert. Zudem stelle sich für ihr Institut im Moment die Frage, «inwiefern die Verwendung von Podcasts generell für mehr Gerechtigkeit für Studierende mit Anspruch auf einen NTA sorgen würde», so Derks.

Allerdings führte die Fachstelle Studium und Behinderung im Jahr 2021 hierzu eine Studie durch: Rund 64 Prozent aller befragten Studis mit Behinderung erlebten ihren Universitätsalltag durch Hybrid- oder Online-Angebote vereinfacht. Abteilungsleiter Benjamin Börner spricht entsprechend von einer Zunahme an Gesuchen um Podcasts, die insbesondere seit der Pandemie zu beobachten sei. Aufzeichnungen würden die barrierefreie Teilhabe am Studium erleichtern. Sie seien deshalb regelmässig unter den Massnahmen vertreten, die die FSB den Fakultäten als NTA empfiehlt. Jedoch sei der Einflussbereich der Fachstelle begrenzt: «Da die Fakultäten autonom über die Gewährung der NTA entscheiden, kann es durchaus vorkommen, dass nicht alle empfohlenen Massnahmen auch den Weg in die Umsetzung finden.»

Prorektorin Siegert tappt im Dunkeln

Gabriele Siegert, Prorektorin Studium und Lehre, hält fest, dass es insgesamt den Dozierenden überlassen bleibt, welche Unterlagen sie mit Studierenden teilen möchten. Die meisten Dozierenden stellen nach Siegert aber eine oder meh- rere Arten mündlicher oder schriftlicher Notizen zur Verfügung. Dass von Fakultäten entschieden wird, in einzelnen Pflichtmodulen keine Podcasts oder Vorlesungsfolien zur Verfügung zu stellen, sei ihr nicht bekannt gewesen. Entsprechend kenne sie die Gründe dafür auch nicht. Siegert will dem jedoch nachgehen: Sie beabsichtige, in der Kommission Lehre und Studium mit Studiendekanen und den betroffenen Dozierenden das Gespräch zu suchen und nachzufragen, welche Gründe es dafür gebe.

Auch Derks spricht von möglichen Veränderungen zugunsten von Studis mit Behinderung: Ihr Institut werde sich in Zusammenarbeit mit dem Fachverein und der FSB in den nächsten Wochen noch vertiefter mit der Frage auseinandersetzen, wie die Lehre in der Ethnologie zugänglicher gestaltet werden könne. Im selben Sinn betont Galli, dass die VSUZH- interne Kommission Studium und Behinderung bei der Uni mehr Druck ausüben könnte, um sicherzustellen, dass mehr Beachtung auf Anliegen eingeschränkter Studis gelegt werde.

Für Börner wiederum muss ein ganzheitlicher Lösungsansatz von der Universitätsleitung ausgehen: «Wir teilen die Auffassung, dass es an der Uni Strukturen und Ressourcen braucht, die einen umfassenden Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderung gewährleisten. Diese Strukturen werden jedoch nicht von der FSB bereitgestellt, sondern von der Universitätsleitung.»