Knapp zwei Wochen lang haben die Aktivist*innen bei jedem Wetter im Wald gezeltet, auch auf den Bäumen.

Gegen Abrissbagger in Wald und Quartier

Kulturreportage — In Rümlang hielten Aktivist*innen zwei Wochen lang ein Waldstück besetzt.

Lisa Egger und Kai Vogt (Text und Bilder)
9. Mai 2023

Halb sieben Uhr morgens, leichter Regen fällt durch das Blätterdach, Bärlauch spriesst am Rand der Waldstrasse. Im Hintergrund ist Vogelgezwitscher zu hören. Ein idyllisches Bild, das gebrochen wird durch vier dunkelblaue Einsatzwagen und etlichen Polizist*innen, die mit Helm und schusssicherer Weste durch frisches Grün stapfen. Zudem auffällig ist das rote Absperrband, das ein weites Stück des Rümlanger Walds unzugänglich macht. Grund dafür: Die Räumung der Waldbesetzung «Rümi», wo sich seit Ostern Aktivist*innen gegen die geplante Rodung des Waldes zur Wehr setzen. Hier, auf einem unscheinbaren Waldstück zwischen Autobahn, Industriequartier, Gleisen und Flughafen, wurde in den vergangenen Wochen ein Kampf ausgetragen, der nur so von Symbolkraft strotzt. 

«Wir bleiben so lange wie nötig»

Als Zora, Sprecherin des Kollektivs «Wald statt Schutt», uns an Ostern das erste Mal empfängt, herrscht reges Treiben auf dem besetzten Gelände. Über einen wackeligen Holzpfad führt sie uns zum Lager, das von den Besetzer*innen auch Wald-WG genannt wird. Es umfasst mehrere Zelte, eine improvisierte Toilette und eine Küche, wo gerade für rund 50 Leute das Abendessen zubereitet wird. Zeitgleich findet ein Häkel-Workshop statt, irgendwo wird musiziert. 

Die Ernsthaftigkeit des Anlasses würde man nicht bemerken, wären da nicht einzelne vermummte Gesichter, grosse Transparente mit Aufschriften wie «Stopp des Abrisswahns» und auf Bäumen errichtete Holzplattformen. «Es heisst, der Wald könnte schon diesen Herbst gerodet werden, wann genau wissen wir nicht. Wir bleiben so lange wie nötig, um das zu verhindern», sagt Zora. Grund für die Rodung des Waldstücks, die etwa 6’000 Bäume umfassen soll, ist die geplante Erweiterung der benachbarten Deponie Chalberhau, wo Bauschutt abgerissener Häuser aus dem Kanton Zürich gelagert wird. Gemäss der Firma Eberhard, welche die Deponie betreibt, ist die Vergrösserung notwendig, da die Menge an Baustoffabfällen in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Die Erweiterung wurde bereits 2017 in den kantonalen Richtplan aufgenommen, 2021 hat der Kantonsrat das Bauvorhaben verabschiedet – trotz Widerstand seitens der Bevölkerung und der Gemeinde. 

Und auch im Kantonsrat wurden Stimmen gegen die Abholzung laut: «In diesem Wald gibt es jahrhundertealte Eichen, die Lebensraum für seltene, vom Aussterben bedrohte Käfer sind», so Thomas Honegger, ehemaliger Kantonsrat. Der Politiker der Grünen begrüsst die Waldbesetzung, sie helfe dabei, ein Bewusstsein für die Werte der Natur zu schaffen. Honegger hat die Besetzung mehrmals besucht und etwa an Waldspaziergängen, die von den Aktivist*innen organisiert wurden, über die aktuelle politische Lage aufgeklärt. 

Aktivist*innen kritisieren Wohnungspolitik 

Mit den Spaziergängen, aber auch mit kleinen Veranstaltungen, etwa Kletter-Workshops oder Spielen am Lagerfeuer, haben die Aktivist*innen über die Wochen versucht, die Besetzung attraktiv zu gestalten. Gleichzeitig haben sie ihren Anliegen durch die sozialen Medien und aktive Medienarbeit Gehör verschafft. Dabei konnten sie verdeutlichen, dass es ihnen um mehr geht, als um den Erhalt des Waldes. Neben der Betonung der wichtigen Rolle, welche die Wälder bei der Bekämpfung von Klima- und Biodiversitätskrise spielen, kritisieren sie die Wohnungspolitik des Kantons, welche die Erweiterung der Deponie erst notwendig gemacht habe. «Bei der Besetzung geht es auch um die Gentrifizierung. Wir wollen nicht, dass Häuser abgerissen werden, die man eigentlich renovieren könnte, nur, damit neue Luxuswohnungen entstehen können», so Zora. Die Aktivist*innen bemängeln die kürzer werdende Lebensdauern der Wohnungen und die Mietpreise, die gemäss Mietpreisindex seit dem Jahr 2000 um mehr als 20 Prozent gestiegen sind. Sie fordern eine nachhaltige Wohnungspolitik, bei der Baumaterialien vermehrt rezykliert anstatt neu hergestellt werden. So mache etwa die Neuproduktion von Beton und Zement jährlich neun Prozent der globalen CO2-Emissionen aus. 

Grosses Echo aus der Politik 

Mit ihren Forderungen in puncto Umwelt und Wohnungsnot zeigen die Besetzer*innen auf drängende politische Themen. Pikant ist, dass die illegale Aktion auf viel Zustimmung aus Bevölkerung und Politik gestossen ist. Nicht nur Bewohner*innen aus der Umgebung haben die zweiwöchige Besetzung unterstützt, zum Beispiel in Form von Essensspenden, sondern auch in der Politik hat diese ein breites Echo gefunden. Kurz nach Beginn der Besetzung haben etwa AL und Grüne in einem Vorstoss im Kantonsrat gefordert, dass der Wald unter Schutz gestellt wird. Auch in ihrem Ausmass ist die Protestaktion einzigartig: Noch nie hat davor eine vergleichbar grosse Waldbesetzung in der Schweiz stattgefunden. 

In Deutschland dagegen ist diese Art des Protests bereits weit verbreitet. Zuletzt sorgte die Räumung des Dorfes Lützerath für Schlagzeilen, das besetzt wurde, um den dortigen Kohleabbau zu verhindern. Die Aktion in Rümlang sei von solchen Besetzungen inspiriert,
erzählt Zora. «Wir sehen uns als Teil dieser Bewegung.» Bei einem weiteren Besuch der Wald-WG, eine Woche nach Beginn der Besetzung, hat das Lager schon einen dörflichen Charakter angenommen. Ein farbiges Eingangstor wurde gebaut, Wege zum Schutz des Waldes abgesteckt, eine Informationsstelle für Interessierte installiert. Einige hämmern, andere kochen, man hilft sich gegenseitig. «Die Besetzung soll ein Ort sein, der Alternativen aufzeigt, ein Ort, wo man ein Leben führen kann, das anders als das kapitalistische ist; wo man eine soziale und inklusive Gesellschaft ausleben kann – soweit das eben möglich ist», sagt Zora. 

Wir treffen hier auf Personen, die extra aus Deutschland angereist sind. So etwa ein älterer Herr aus Frankfurt, besetzungserfahren, der gekommen ist, «um Widerstand zu leisten». Dies, nachdem die Gemeinde Rümlang dem Kollektiv mit der Räumung gedroht hat. Konkret wurde den Aktivist*innen ein Ultimatum gestellt, das sie jedoch verstreichen liessen. «Wir haben ihnen zwei Angebote gemacht, wie sie ihre Aktion legal gestalten könnten», sagt Giorgio Ciroli, Verwaltungsleiter der Gemeinde Rümlang. Es wurden zwei Standorte in der Nähe vorgeschlagen, wo der Protest bewilligt worden wäre. Diese seien ausgeschlagen worden, um die Wirkung der Aktion zu sichern, so Katrin von «Wald statt Schutt». «Ziviler Ungehorsam soll Aufmerksamkeit erregen und ein Zeichen setzen.»

Elf Anzeigen und drei Festnahmen 

Trotz Drohung rechnen die Aktivist*innen am Donnerstagmorgen, knapp zwei Wochen nach der Besetzung des Waldstücks, nicht mit der Räumung. Ein weiteres Gespräch mit der Gemeinde wäre noch ausgestanden, als die Besetzer*innen von einem Grossaufgebot der Polizei geweckt werden. Die Waldeigentümerin sowie die Gemeinde hätten gemäss der Kantonspolizei Strafanzeige eingereicht. Bei der Räumung werden elf Personen angezeigt, drei widersetzen sich polizeilichen Anweisungen und verharren während mehrerer Stunden auf den Plattformen hoch oben auf den Bäumen. Von Kletterpolizist*innen werden sie geborgen und anschliessend verhaftet. Laut den Aktivist*innen sind Anzeigen wegen Nötigung, Sachbeschädigung und Verstoss gegen Polizei- und Waldgesetz angekündigt worden, zudem drohen ihnen hohe Räumungskosten. Dennoch werten sie die Aktion als Erfolg: «Es hat dem Wald eine neue Chance gegeben, mit dem Protest ist der Widerstand neu aufgeflammt und hat neue Hoffnung gebracht», sagt Katrin. 

Tatsächlich könnte die Rodung noch auf institutionellem Weg verhindert werden. Sobald der konkrete Gestaltungsplan für die Deponieerweiterung auf dem Tisch liegt, besteht für Naturschutzverbände die Möglichkeit, Rekurs einzulegen. Bis dann setzen sich die Aktivist*innen von «Rümi» weiter für ihre Sache ein, etwa mit einer Petition und Demonstrationen. Dabei ist eines klar: Es geht hier um weit mehr als den Rümlanger Wald. Wie unter einem Brennglas zeigt der Fall die Verwobenheit der Ursachen drängender Probleme; von Wirtschaftsinteressen über Wohnungspolitik bis hin zum Umgang mit unserer Umwelt. Und mittendrin der Aktivismus und eine polarisierte Politiklandschaft – das alles in einer sich zuspitzenden Klimakrise.