Buchtipps: Sommerlektüre

Auf Blumenwiesen kann man nicht nur mit Liebhaber*innen liegen: Wir stellen euch fesselnde Lektüre für diesen Sommer vor.

«Sturz in die Sonne» von Charles Ferdinand Ramuz

Gedankenexperiment 38, 39, 40, 42 Grad. Was, wenn die Erde der Sonne immer näher käme? Wenn die Temperaturen unaufhaltsam in ungeahnte Höhen stiegen? Charles Ferdinand Ramuz, ein bedeutender Autor der französischen Schweiz, beschreibt in «Sturz in die Sonne» die Antwort der Menschen auf diese Hiobsbotschaft mit einer Klarheit, die Gänsehaut erregt. Verleugnung, es sei gut für die Ernte. Schleichende Angst: «Und wenn es doch wahr ist?». Der Roman liest sich wie eine Prophezeiung, 1922 geschrieben, nach einem Temperaturrekord von 38,3 Grad in Genf. Genau hundert Jahre später wurde das Buch zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Im Sommer 2022 wurden in Genf 38,5 Grad gemessen. Panik, Revolution, der Krieg aller gegen alle. Ramuz’ Gedankenexperiment lässt sich heutzutage kaum mit Distanz zu den jetzigen Ereignissen lesen. Die kompakte Sprache, gespickt mit kargen, aber eindrücklichen Bildern, zwingt von Seite zu Seite, ein Sturz in den Text, der unaufhaltsam weiter rast. [jac]

«Stürmische Jahre» von Eveline Hasler

Lokalgeschichte Ferdinand und Marianne Rieser führen das Zürcher Schauspielhaus durch die stürmischen Dreissigerjahre. Sie beschäftigen Emigrant*innen aus ganz Europa, die vor dem Nationalsozialismus auf der Flucht sind, und trotzen mit ihren Aufführungen dem Faschismus, der die Schweiz zu erfassen droht. Angefeindet werden sie von den Frontisten, angeführt von einem jungen James Schwarzenbach. Derweil treibt sich seine Cousine Annemarie Schwarzenbach mit Erika und Klaus Mann herum, die mit ihrem Vater Thomas aus Deutschland geflohen sind. Gestützt auf zeitgenössische Quellen wie Tagebücher, unter anderem jenem von Thomas Mann, fiktionalisiert Hasler in ihrem historischen Roman die Geschichte dreier Familien, die massgeblich zur Zürcher Kunstszene und Politik der Zwischenkriegszeit beigetragen haben. Der eine oder andere Ort und Name, der von den Protagonist*innen erwähnt wird, wird manchen bekannt vorkommen. Das Buch macht eine*n neugierig und erweckt das Verlangen, sofort das Stadtarchiv aufzusuchen, um mehr über das frühere Zürich zu erfahren. [lea]

«Canceln»

Fundiert – Sollte man Karl May noch lesen, obwohl seine Werke voller ethnischer Stereotypen sind? Was unterscheidet «Canceln» von Kritik? Diese Anthologie versammelt Beiträge von unterschiedlichen Geisteswissenschaftler*innen und Literaturkritiker*innen. Anhand von Tweets, persönlichen Erfahrungen oder Forschungsliteratur untersuchen sie einzelne Cancel-Fälle: Sei es der Fall J. K. Rowling, Michael Endes «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer» oder Kleists «Verlobung in Santo Domingo». Die verschiedenen Ansätze regen dazu an, sich mit den eigenen Werten und Standpunkten auseinanderzusetzen und machen vor allem eines deutlich: Die Einbettung in die jeweiligen Kontexte und die Berücksichtigung der Macht von Sprache ist für eine produktive Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Cancelns entscheidend. Der Sammelband ist ein Versuch, die hitzig geführten Debatten in den aktuellen Feuilletons und Tweets zu beruhigen und den Diskurs zu versachlichen. [luc]

«Empusion» von Olga Tokarczuk

Formenspiel –1913 reist der junge Mieczysław an einen schlesischen Kurort für Lungenkranke. Im Austausch mit den gebildeten Patienten versucht er, sich einen Reim auf die intellektuellen Strömungen seiner Zeit zu machen. In Görbersdorf buhlen Traditionalisten, Sozialisten und Nationalisten um die Zustimmung des vermeintlich beeinflussbaren Studenten. Einig werden sie sich in ihrer Frauenfeindlichkeit. Dabei hat Tokarczuk misogyne Theorien von Platon bis Freud aufgegriffen und verarbeitet. Aber es scheinen sich auch mysteriöse Todesfälle zu häufen. Die Nobelpreisträgerin trägt einen fantastisch doppelbödigen Roman vor, in dem schelmisches Formenspiel, raffinierte Figurenpsychologie, ein feministischer kritischer Impuls und glänzend anschauliche Beschreibungskunst zusammenfinden. Die Mechanismen männlicher Klüngel werden mit ihrem Ineinander von eitlem Konkurrenzgebaren und Verbrüderung gegen die Frauen vorgeführt – grandios entlarvend und voller hintersinnigem Humor.  [man]

«Die Ladenhüterin» von Savaka Murata

Erwartungen Täglich klingelt, klackert und raschelt es um Keiko herum. Sie steht in ihrer Uniform an der Kasse und lässt ihre Sinne den Raum lesen. Klimpert es in einer Hosentasche, steht sie blitzschnell bereit, um einzukassieren. Nie vergisst sie die obligatorische Begrüssung «Irasshaimasé». In der hell ausgeleuchteten, durchstrukturierten Welt des Gemischtwarenladens fühlt sie sich zu Hause, seit sie zwanzig Jahre alt ist. Denn hier gibt es klare Vorschriften: Keiko erlernt den angemessenen Umgang mit Kund*innen und legt  sich einen normalen Gesichtsausdruck und eine höfliche Sprechweise zu. Zum ersten Mal in ihrem Leben werden ihr die Regeln des menschlichen Zusammenlebens erklärt. Doch je älter sie wird, desto mehr wächst der Druck der Aus-senwelt: Heiraten, Kinder, Führungsposition am Arbeitsplatz. Aber Keiko ist zufrieden. Sie möchte weder aufsteigen noch heiraten und kommt ausserhalb des Gemischtwarenladens nicht zurecht. Muratas Roman ist eine lustige und leicht bizarre Abhandlung über die Erwartungen der kapitalistisch geprägten Aussenwelt. Die kuriose, aber herzerwärmende Schilderung einer ungewöhnlichen Persönlichkeit eignet sich perfekt für das Verschlingen in einer Lesesitzung. [lea]

«Nach Manhattan» von Bernhard Chiquet

Herkunft – Es sind zwei Welten, von denen der Künstler Bernhard Chiquet in seinem Roman «Nach Manhattan» erzählt. Die idyllischen Felder des Dorfes Cornol im Jura stehen im scharfen Kontrast zu den glamourösen Luxusbauten New Yorks, Landluft vermischt sich mit teurem Parfüm. Dazwischen befindet sich die Familie Chiquet, Bauern, deren jüngere Mitglieder im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ihr Glück versuchen. Biografisch, mit literarischen Ausschmückungen, schildert Chiquet, der Grossneffe der Emigranten, deren Erfahrungen als Kindermädchen und Kammerdiener der Oberschicht. Historische Geschehnisse laufen im Hintergrund. Wo die Erzählungen der Älteren lückenhaft sind, malt Chiquet sie nach bestem Gewissen aus. So schafft er ein ausdrucksstarkes Werk voller Anekdoten, das den Bogen vom Aufbruch seines Grossonkels bis hin zur endgültigen Rückkehr der letzten Auswandererin Jahrzehnte später beschreibt. Eine schöne Lektüre, die zum Schwelgen in vergangene Zeiten einlädt. [jac]

«Seven Gothic Tales» von Isak Dinesen

Mysterie Ein Leben ohne beständige Identität – das lotet die dänische Autorin Karen Blixen in der 1934 erschienenen Kurzgeschichte «The Dreamers» aus. Die Handlung spielt im 18. Jahrhundert und beginnt damit, dass sich der junge Engländer Lincoln in eine römische Prostituierte verliebt. Sie haben eine schöne Zeit, bis die Frau plötzlich verschwindet und Lincoln das Herz bricht. Ein Weile später trifft er in einem Hotel zufällig auf zwei junge Männer, die ebenfalls sitzen gelassen wurden: der erste von einer Revolutionärin, der zweite von einer Heiligen. Als Lincoln hört, wie beide von einer Narbe am Hals ihrer Geliebten erzählen, versteht er die Welt nicht mehr, denn auch die Römerin hatte diese Narbe! Zugleich tritt eine geheimnisvolle Unbekannte halbverschleiert in den Saal des Hotels. Und alle drei glauben, ihre Geliebte wiederzuerkennen. Blixen spielt auf geniale Art und Weise mit den Leser*innen. Die Erzählung ist Teil eines Bandes namens «Seven Gothic Tales», in dem bestimmt noch weitere Juwelen zu finden sind. [jon]

«Kochen im falschen Jahrhundert» von Teresa Präauer

Dinnerparty – Österreichische Literatur gilt als besonders sprachbewusst. Das vorliegende Buch zeigt, dass es sich hierbei nicht nur um ein Klischee handelt. Eine Dinnerparty im Stil von Ottolenghi unter Freunden ist der Ausgangspunkt von Teresa Präauers Roman. Er ist eine Art Kammerspiel in den eigenen vier Wänden der Protagonistin, welche im Buch nur als «die Gastgeberin» genannt wird. Die weitere Figurenkonstellation beläuft sich auf deren Partner, ein geladenes Ehepaar und einen Schweizer. Die Vorbereitungen für das selbst gebackene Quiche Lorraine beginnen bereits am Vortag, die Pression bei der Gastgeberin gut mehrere Wochen vorher. Kochen als Distinktionsmerkmal und Teil des Erwachsenwerdens. Geschildert wird ein Abend bei reichlich gutem Crémant aus dem Elsass, der fortschreitend komischer, tragischer und erotischer wird. Da ist etwa die Rede von «akademischen Viertelstündchen Verspätungen», welche als höfliche Unpünktlichkeit zu verstehen sind. Es ist die Art und Weise der gewählten Gesellschaftssatire, die überzeugt. Die Autorin  hält der Leser*innenschaft nämlich den Spiegel vor, ohne dabei zu verurteilen. Der Text beeindruckt einerseits durch seine avantgardistische Erzählweise, andererseits durch seine hyperpräzise Gegenwartsbeobachtung, die einen schmunzeln lässt.  [maw]