WG statt Liebesnest: Mit Freund*innen zusammenwohnen muss keine Überganglösung sein

«Wir sollten unseren Fokus mehr auf Freundschaft verlagern»

Viele aromantische und asexuelle Menschen wollen keine herkömmliche Beziehung. Drei junge Frauen erzählen, wie sie ohne Sex oder Romantik lieben.

Anahí Frank (Text) und Selma Hoffmann (Illustration)
8. Mai 2023

Am liebsten würde Natascha mit ihren engsten Freund*innen zusammenwohnen. Abhängen, Dinge unternehmen und füreinander da sein – am besten für immer. «In meiner Clique haben wir uns schon zum Uno-Spielen im Altersheim verabredet», erzählt die 21-jährige Schreinerin grinsend. 

Auch Selina, eine 23-jährige Human-Resources-Mitarbeiterin, geniesst das WG-Leben: «Jetzt lebe ich mit meiner Mutter in einem Haus, und wenn das nicht mehr geht, gründe ich eine Frauen-WG und später eine Alters-WG.»

Aus einer WG auszuziehen, um mit einer*einem Partner*in zusammenzuziehen, kommt für beide nicht in Frage:  «Mit etwa 12 ist mir aufgefallen, dass mich die Themen Beziehungen und Sex Null interessieren», sagt Selina. Während ihre Freundinnen begannen, attraktiven Jungs und Mädchen hinterher zu schauen, hätte Selina «eher einem Menschen mit einem Schokoladenkuchen nachgeschaut» als einem besonders «heissen» Typen. Auch Natascha beobachtete verwundert, wie ihre Kolleg*innen sich verliebten und die ersten Beziehungen eingingen: «Ich habe mir nur so gedacht: Was man in Büchern und in Filmen sieht, das machen Menschen wirklich?» 

«Du hast den Richtigen noch nicht gefunden»

Mit 19 hörte Natascha in einem Youtube-Video zum ersten Mal das Wort «asexuell» und merkt sofort: «Das passt». Sie erkennt sich auch in Videos über aromantische Menschen wieder – das sind Menschen, die sich nicht verlieben oder die kein Interesse an romantischen Beziehungen haben. Doch es dauert eine Weile, bis sie sich mit dem Begriff «aromantisch» identifiziert. «Die Gesellschaft suggeriert uns, dass wir einsam sind, wenn wir keine Beziehung haben», erklärt sie ihre anfänglichen Befürchtungen. An der Pride 2022 trifft sie andere aromantische Menschen und fühlt sich ganz auf einer Wellenlänge. Sie teilen viele Interessen und das gleiche Desinteresse: «Wir reden so wenig über Beziehungen», freut sich Natascha und hält Zeigefinger und Daumen ganz nahe zusammen.

«Einige asexuelle Menschen finden Sex ekelhaft, aber ich kann Freude daran haben.»
Jana ist auf dem asexuellen Spektrum und führt eine romantische Beziehung.

Manchmal besucht Natascha auch die Treffen von Aromantisches und Asexuelles Spektrum Schweiz, kurz Aro-Ace-Spektrum Schweiz. Seinen geistigen Ursprung hat dieser Verein in einer fünfköpfigen Whatsapp-Gruppe von 2015 – heute erreicht das Aro-Ace-Spektrum Schweiz über Social Media knapp 200 Menschen. «Wir haben verschiedene Chat-Gruppen, etwa für unter und über Dreissigjährige und einen Chat für den lockeren Austausch», berichtet die Vereinspräsidentin Jana. 

Um Aussenstehende aufzuklären, sammeln sie zudem Ressourcen auf ihrer Website und beantworten Medienanfragen. Denn wie Natascha es ausdrückt: «Nur wenige wissen, dass es asexuelle und aromantische Menschen gibt!»

Diesen Eindruck hat auch Selina. Obwohl sie asexuell und aromantisch ist, bezeichnet sie sich oft nur als asexuell, da die meisten das Wort «aromantisch» gar nicht kennen würden. Viele Leute versuchten auch, mit ihr über ihre sexuelle und romantische Orientierung zu diskutieren: «Ich habe schon zu oft gehört, ‹Du hast den Richtigen nur noch nicht gefunden›.» 

Bei Selinas Familie lief es jedoch anders: «Als ich meiner Mutter und Grossmutter erzählt habe, dass ich asexuell bin, haben sie sich in meiner Beschreibung wiedererkannt», sagt sie. Heute geniessen Selina und ihre Mutter die Freiheit eines Singlelebens in ihrem Zweigenerationenhaushalt. 

Neue Beziehungsformen

Zwar sind gemäss Vereinspräsidentin Jana viele Mitglieder des Aro-Ace-Spektrum Schweiz Singles, doch bei weitem nicht alle. Jana selbst ist auf dem asexuellen Spektrum, aber nicht aromantisch, und führt eine romantische Beziehung. Manchmal hat sie mit ihrem Freund auch Sex. «Einige asexuelle Menschen finden Sex ekelhaft, aber ich kann Freude daran haben», sagt sie. «Ich empfinde allerdings nie Lust darauf und könnte genauso gut ohne leben.» Ihr Freund komme gut damit klar, auch wenn er nicht asexuell sei und somit sexuelle Anziehung empfinde. Für ihn sei es am wichtigsten, dass sie viel Zeit miteinander verbringen können. 

«Vielleicht ist romantische Liebe das Bedürfnis, so oft wie möglich mit der anderen Person zusammen zu sein», überlegt Jana, und fügt lachend hinzu: «Aber in Freundschaften will man sich ja auch oft sehen. Anziehungen zu definieren ist für mich sehr schwierig.»

In der asexuellen und aromantischen Gemeinschaft haben sich viele Begriffe entwickelt, um die verschiedenen Beziehungs- und Anziehungsformen zu beschreiben. «Queerplatonic Relationship» ist ein weitgefasster Begriff für enge Beziehungen ausserhalb der romantischen Normen. Einige Menschen in einer solchen Beziehung führen eine besonders enge Freundschaft, andere leben zusammen oder ziehen ein gemeinsames Kind gross. 

«Es gehört zum Prinzip einer ‹Queerplatonic Relationship›, dass jede*r für sich selbst entschieden kann, wie diese Beziehung aussieht», erklärt Natascha. Auch sie könnte sich vorstellen, eines Tages Teil einer solchen Beziehung zu sein. Ein*e Partner*in dafür zu finden, sei jedoch nicht ganz einfach: «Es wird geschätzt, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung asexuell ist. Es ist sehr schwer, darunter einen Menschen zu finden, der zu dir passt.» Einige Internetforen bieten darum Kontaktbörsen eigens für aromantische und asexuelle Menschen an. Es gibt auch eine englischsprachige App namens «Ace App», doch viele Nutzer*innen klagen über zu wenige Nutzer*innen und zu viele Fake-Profile.

Freundschaften können genauso eng sein

Selina sieht keinen Unterschied zwischen Beziehungen und Freundschaften – ausser der körperlichen Intimität, die romantische und sexuelle Beziehungen ausmacht. «Mit meiner besten Freundin bin ich emotional genauso nahe wie sie mit ihrem Freund», meint sie. «Vielleicht auch näher, weil wir uns viel länger kennen.» Dass Paarbeziehungen auf ein Podest gestellt werden, kann sie nicht nachvollziehen. «Ich finde, dass wir den Fokus mehr auf Freundschaften verlagern sollten. Denn diese halten meist länger als Beziehungen», sagt sie. 

Dass romantische Beziehungen nicht immer einfach sind, weiss auch Natascha, die ihren Freund*innen als «Psychologin und Sorgentelefon» zur Seite steht. Trotzdem verspürt sie manchmal Sehnsucht nach der in Büchern beschriebenen Liebe: «Dass mich jemand genauso liebt wie sich selbst, das will ich auch», meint sie. Doch dann stellt sie zufrieden fest: «Aber eigentlich habe ich das schon. Meine Freund*innen würden für mich alles tun und ich auch für sie.»