In «Das Marmorbild» erwecken Florios Liebesgefühle eine Venusstatue zum Leben.

Warum sich Verliebte täuschen

Sie fühlen sich einander tief verbunden. Doch diese Verbundenheit ist eine Illusion: Tatsächlich sehen Verliebte nur das, was sie wollen.

Jon Maurer (Text) und Basil Gallati (Illustration)
8. Mai 2023

Wer einmal heftig verliebt war, weiss um die Not, in der man sich dann befindet: Keine Worte werden dem gerecht, was man empfindet. Nicht wenige werden verliebt spontan zu guten oder auch schlechten Dichter*innen, andere grinsen nur tagelang still vor sich hin.

Klar ist jedoch, dass Verliebte an eine besondere Verbindung zueinander glauben. So erzählte mir ein Freund, als er von seiner Flamme schwärmte: «Da ist eine innige Verbindung zwischen uns. Ich spürte sie von Anfang an.» Er sagte das in einem verklärten, ergriffenen Tonfall.

Dieser Glaube an eine besondere Verbindung ist erstaunlich, weil Verliebte sich ja oft noch gar nicht lange kennen. Mein Freund zum Beispiel kennt seine Angebetete seit zwei Wochen. Ist das nicht seltsam? Während Freundschaften sich über Jahre hinweg entwickeln und vertiefen müssen, scheint eine innige Verbindung bei Verliebten einfach gegeben.

Der Jüngling aus Lucca

Ich glaube, das ist eine Illusion, wenn auch eine wunderschöne. Sie ist in meinen Augen ein Produkt der eigenen Wünsche, Sehnsüchte und der eigenen Vorstellungskraft. Aber was heisst es überhaupt, verliebt zu sein? Schauen wir dazu ein Literaturbeispiel an.

Das Beispiel ist ein Abschnitt aus der Novelle «Das Marmorbild», die im Jahr 1818 von Joseph von Eichendorff veröffentlicht wurde. Die Hauptfigur ist der naive Jüngling Florio. 

Er ist gerade in der Stadt  Lucca angekommen und hat auf einem abendlichen Fest eine junge Dame namens Bianka «auf die roten heissen Lippen» geküsst. Jetzt liegt er verträumt im Bett und kann nicht schlafen. Also steht er auf, es zieht ihn, von unbestimmter Sehnsucht gepackt, in die Weinberge vor der Stadt.

Singend läuft er durch die Gegend, wobei er nicht  weiss, für wen er singt. Gar nicht unbedingt für Bianka, denn sein «der zierliche Erscheinung nachträumendes Herz hatte ihr Bild unmerklich und wundersam verwandelt in ein viel schöneres, grösseres und herrliches».

Schliesslich kommt er an einen stillen Weiher und sieht dort eine Marmorstatue der Göttin Venus. Der Anblick fesselt ihn, «ihm kam jenes Bild wie eine lange gesuchte, nun plötzlich erkannte Geliebte vor». Und je länger Florio das Marmorbild anschaut, desto mehr scheint es ihm, «als schlüge es die seelenvollen Augen langsam auf, (…) als blühe Leben wie ein lieblicher Gesang erwärmend durch die schönen Glieder herauf.» Venus erwacht zum Leben.

Intime Wünsche setzen die Verliebten in ein scheinbar intimes Verhältnis.

Florio hat sich von Bianka sexuell erregen lassen, die «roten heissen Lippen» lassen daran keinen Zweifel. Doch es ist mehr als das: Als er im Bett liegt, wirkt die Erinnerung daran nach und vermittelt ihm eine Ahnung dessen, was Liebe heisst. Plötzlich weiss er nicht mehr, was mit sich und seiner Sehnsucht anzufangen. Nur die Unendlichkeit des Sternenhimmels lässt ihn atmen. Und er wandert los. Sein Laufen ist als unendliche Bewegung ein Ausdruck von: «Ich will mehr von diesem Gefühl». Sein Singen verwandelt die Erinnerung an Bianka in ein «viel schöneres, grösseres und herrliches» Bild. So wächst seine Sehnsucht im Alleinsein. 

Als Florio dann an den Weiher tritt und plötzlich die Venusstatue vor ihm auftaucht, bietet sie die perfekte Projektionsfläche. Er findet seine intensiven Gefühle im Kunstwerk verewigt und gespiegelt. Der Eindruck ist so stark, dass Florio glaubt, Venus stehe lebendig vor ihm.

Liebe auf den ersten Blick

Wir können diese Passage als typischen Verlauf des Sich-Verliebens lesen. Ein erregender Moment weckt Sehnsüchte, die sich im Alleinsein vergrössern und durch die Schwärmerei noch weiter wachsen. Wenn dann eine Person auftaucht, die den Verliebten per se schon gefallen würde – so, wie das Kunstwerk Florio auch in nüchternem Zustand gefallen würde – dann kommt es zur Projektion. Verliebte glauben plötzlich, in der anderen Person alle Liebeswünsche erfüllt zu sehen: «ihm kam jenes Bild wie eine lange gesuchte, nun plötzlich erkannte Geliebte vor».

Die Projektion passiert dabei unbewusst. Florio kann gar nicht anders, als sich in die Venus zu verlieben. Seine Sehnsucht ist durch Biankas Kuss und den Nachtspaziergang so sehr gewachsen, dass die blosse Präsenz der Statue genügt, ihn sich verlieben zu lassen.

Ein paradoxer Zustand

Der letzte Augenblick der Szene ist zudem ein sehr intimer Moment. Denn die Sehnsüchte, welche Florio im Bild der Venus erfüllt sieht, hat er lange tief in sich getragen. Dass sie nun vor seinen Augen Realität werden, berührt ihn im Innersten. So wird auch das Verhältnis, das zwischen der Venus-Statue und ihm besteht, für einen Moment lang intim: Sie erwacht zum Leben und schenkt ihm einen Blick aus ihren «seelenvollen Augen». Genau in dieser gefühlten Intimität besteht meiner Ansicht nach der Glaube an eine besondere Verbindung zwischen Verliebten. Das Gefühl, sich endlich in seinen Sehnsüchten erkannt zu wissen. 

Die Intimität ist aber in erster Linie  das Resultat einer Projektion. Gerade weil man in der anderen Person sieht, was man so dringend sehen will, scheint es so, als hätte man sich immer nur diese Person gewünscht. Das heisst: Verliebte nehmen ihr Gegenüber idealisiert wahr. Die verkörperte Venus ist in Florios Augen offensichtlich die perfekte Geliebte. Alles, was nicht in dieses Idealbild passt, übersieht er. Zum Beispiel, dass die Venus nicht aus Fleisch und Blut ist, sondern aus kaltem Stein.

Wir sehen also, dass Verliebtsein ein paradoxer Zustand ist. Man fühlt sich einer Person intim verbunden und idealisiert sie zugleich. Die Auflösung dieses Paradoxes ist meiner Meinung nach, dass sich Verliebte über die Art ihrer Verbindung täuschen. Während sie glauben, einander voll und ganz zu erkennen, sehen sie im Gegenüber vor allem die eigenen Idealvorstellungen. Florios Erlebnis mit der Venusstatue treibt diese Dynamik auf die Spitze.

Doch plötzlich ist die Luft raus

Soweit, so gut. Aber bei Florio und der Statue ist ja klar, dass keine Verbindung zwischen ihnen entstehen kann. Wie steht’s um zwei Menschen, die sich ineinander verlieben?

Nehmen wir zwei junge Germanistik-Studentierende namens Tina und Theo als Beispiel. Sie schweben auf Wolke sieben, denn sie haben sich ineinander verliebt. Sie haben viel Sex, Diskussionen über Goethe und auch sonst viel Spass. Doch nach drei, vier Monaten ist die Luft plötzlich raus. Tina bemerkt, dass Theo eigentlich ein Stubenhocker ist. Und Theo realisiert, dass er Tinas Ehrgeiz nicht ausstehen kann. So löst sich die Beziehung nach ein paar unfruchtbaren Diskussionen auf.

Die innige Verbindung, die zwischen Tina und Theo bestand, war das Zusammen-Glücklich-Sein. Sie hatten zur gleichen Zeit die gleichen Gefühle. Ich würde aber nicht sagen, dass sie einander voll und ganz erkannten. Sonst hätte Tina sofort gesehen, dass Theo ein Faulpelz ist. Und Theo hätte früher bemerkt, dass Tinas Ehrgeiz ihn auf die Palme bringt. Als sie verliebt waren, sahen sie nur diejenigen Aspekte aneinander, die ihnen gefielen - sie idealisierten sich. Erst nach der verliebten Phase kamen die Differenzen ans Licht.

Wenn Verliebte von einer innigen Verbindung sprechen, betonen sie damit die Intensität ihres eigenen Gefühls. Darüber, wie vertraut ihnen das Gegenüber ist, täuschen sie sich jedoch. Eine wahrhaft tiefe Verbindung kann erst nach der verliebten Phase entstehen. Dann sieht man die Ecken und Kanten des Gegenübers und lernt, damit umzugehen – genau, wie das auch Freund*innen tun.