Kann Sexarbeit feministisch sein?
In vielen Debatten werden Prostituierte als Opfer von Ausbeutung dargestellt. Sexarbeiter*innen selbst plädieren für eine Entstigmatisierung.
«Wir sind keine besseren oder schlechteren Menschen. Unter uns gibt es gebildete, rücksichtslose, hilflose, glückliche, verlorene, kriminelle, verantwortungsbewusste Menschen», sagt Undine de Rivière, Sexarbeiterin und Gründungsmitglied des deutschen Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen. Sexarbeiter*innen seien divers und es gebe unterschiedliche Grade an Professionalisierung. Auch die persönlichen Umstände variierten: Manche von ihnen führen seit Jahren glückliche Beziehungen, andere werden von ihrem Mann geschlagen, sind glückliche Singles mit grossem Freundeskreis, lassen sich von ihren erwachsenen Kindern ausnutzen oder werden von ihren Familien schon ein Leben lang liebevoll unterstützt. «Kurz: Wir sind viele, wir sind völlig unterschiedlich, und wir lassen uns bei bestem Willen nicht in ein Schema pressen», so de Rivière.
Professorin Sabine Grenz, Forscherin im Bereich Gender Studies an der Universität Wien, griff diese Debatte im Rahmen der Zürcher Veranstaltung «Sexarbeit: ein feministischer Widerspruch?» auf. In ihrem Referat beleuchtete sie die verschiedenen in ihrem Forschungsfeld üblichen Argumente und zeigte Widersprüche auf. Grundsätzlich geht es bei Sexarbeit um Sexualität und Geld. In beiden Aspekten gelten Frauen als benachteiligt. Einige Sexarbeiterinnen entscheiden sich womöglich wegen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt für den tendenziell flexibleren Beruf. Sie vor diesem Hintergrund als Opfer anzusehen, ist laut Grenz verkürzt: Man unterstellt ihnen damit, nicht fähig zu sein, ihre eigene berufliche Entscheidung zu treffen. So sehe man sie «nicht als Subjekte, sondern nur als Objekte von Männern».
In der heterosexuellen Sexarbeit werde Prostitution so gerne «zum Symbol für die Verfügbarkeit des weiblichen Körpers, den Frauentausch, die sexuelle und ökonomische Autonomie von Männern und die daraus resultierende Hierarchie zwischen Männern und Frauen» gemacht. Jedoch nehme sich die Sexarbeiterin heraus, «es sich bezahlen zu lassen, begehrt zu werden». Und beanspruche damit das in der Gesellschaft männlich kodierte Geld. Durch ihren Job erhalte eine Sexarbeiterin also die Möglichkeit, ökonomisch unabhängig zu sein.
Es heisst teilweise, 90 Prozent der Frauen in der Branche seien zur Sexarbeit gezwungen. Zahlen könne man bei dem Thema jedoch nicht trauen, sagen Grenz und Undine de Rivière gleichermassen. Letztere kritisiert im Gespräch mit der ZS, wie der Zwang denn definiert wird: «In der Sexarbeit wird oft ein anderer Massstab gesetzt als in anderen Berufen, gerade von Sexarbeitsgegner*innen.» Als freiwillige Arbeit gelte in diesem Bereich nur, was die Personen auch ohne Geld machen würden. Ansonsten spreche man von einem «wirtschaftlichen Zwang». «Das ist halt Bullshit! Wir arbeiten alle, um Geld zu verdienen», so die Sexarbeiterin.
«Sexarbeit ist Arbeit»
Auch Grenz sagte nach dem Referat: «Es bleibt der Widerspruch!» Die Frage nach der Vereinbarkeit von Sexarbeit mit dem Feminismus sei irreführend. Wenn man diese Frage stelle, müsse man auch etwa die Ehe oder die Arbeit in der Pflege in Frage stellen. «Jede Tätigkeit ist mit Feminismus vereinbar, weil es auf die politische Einstellung ankommt», ist die Professorin überzeugt. «Sexarbeit ist Arbeit», fordern auch Kollektive, die sich für die Rechte von Sexarbeiter*innen einsetzen; so etwa das nationale Netzwerk zur Verteidigung der Interessen von Sexarbeitenden in der Schweiz, Prostitution Collective Reflexion (ProCoRe). Die Stigmatisierung und Kriminalisierung müsse aufhören und stelle das grösste Gefährdungspotenzial für Sexarbeiter*innen dar.
Auch Ursula Kocher, Teamleiterin bei Flora Dora, einer niederschwelligen Beratungsstelle für Sexarbeiter*innen der Stadt Zürich, hält eine Legalisierung von Sexarbeit für den besten Weg, um Menschenhandel zu bekämpfen. Sonst würden die Menschen in Wohnungen oder im sogenannten Untergrund verschwinden. Laut Kocher ist es dann schwieriger, Betroffene zu finden.
Analog zu anderen Care-Berufen sieht man bei der Sexarbeit ebenfalls einen steigenden Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund: In der Schweiz sind es schätzungsweise 75 Prozent der Sexarbeiter*innen. Die europäische Allianz für die Rechte von Sexarbeiter*innen betont in einem Bericht über die Situation von migrantischen Sexarbeiter*innen, dass die grösste Gefährdung für diese besonders vulnerable Gruppe durch unsichere Arbeitsorte entstehe.
Entkriminalisierung bringt Sicherheit
Vielerorts ist Sexarbeit kriminalisiert oder durch Regelungen wie Sperrzonen erschwert. Schwierig, insbesondere für migrantische Sexarbeiter*innen, ist zudem das Melden von Übergriffen und damit überhaupt der Zugang zu ihren Rechten. Auch ProCoRe fordert daher «die vollständige Entkriminalisierung der Sexarbeit sowie sichere Migrations- und Arbeitsmöglichkeiten». Das Netzwerk betont: «Was wir bekämpfen sollten, ist Armut und Ausgrenzung, nicht die Sexarbeit.»
Die Beratungsstelle in Zürich unterstützt migrantische Sexarbeiter*innen bei Fragen zu Gesundheit, Niederlassungs- oder Arbeitsbewilligungen sowie Umstiegsmöglichkeiten. Es gebe Menschen im Beruf, die in ihre Herkunftsländer zurückkehren oder eben in Zürich bleiben wollen. Neben solchen, die aussteigen wollen, gebe es manche, die sagen: «Zurzeit ist es für mich die Arbeit, die ich machen möchte. Ich habe Spass daran.» In diesem Fall spreche laut Kocher «gar nichts dagegen». Diese Haltung teilen auch Grenz und de Rivière.