Alles besetzen? Ja!
Der Wohnraum in Zürich ist knapp – sehr knapp. Die Kampagne «Alles wird besetzt» will leerstehende Räumlichkeiten zwischennutzen. Zu Besuch bei den Besetzer*innen.
Letzten Februar rief die Kampagne «Alles wird besetzt» anlässlich der Räumung des Koch-Areals zum unbewilligten Streik auf. Auf den vorab verteilten Flugblättern stand in Grossbuchstaben: Mach den Zürcher Wohnungstest. Es handelte sich um einen Fragebogen, der dazu anregen sollte, sich mit der Wohnungsknappheit auseinanderzusetzen. Auf dem Flugblatt folgte der Appell an die Eigeninitiative: Könne man mindestens einmal mit Ja antworten, so solle man seinen Frust auf die Strasse tragen.
«Kannst du dir die Miete kaum noch leisten?» Mit solchen Fragen müssen sich viele potenzielle Mieter*innen während der Wohnungssuche befassen, insbesondere in Zürich.
Die städtische Wohnpolitik hinterfragen
In einem Gemeinschaftszimmer einer Hausbesetzung im Kreis 4 sitzen Markus*, Maya* und Manu*, die sich für «Alles wird besetzt» engagieren. Seit Herbst 2022 machen deren gelbe Sticker und Flyer die Runde. Der Startschuss der Kampagne fiel damals mit dem Aufruf zur Demonstration angesichts der drohenden Räumung des Koch-Areals. Seither blieb die Bewegung kontinuierlich aktiv.
Auf ihrer Website sammeln sich fortlaufend zugeschickte Beiträge von neu besetzten Häusern und Communiqués verschiedenster Gruppierungen. Über die Kernaufgabe der Kampagne sagt Maya: «Wir schaffen Kommunikationskanäle, sammeln Informationen aus verschiedenen Szenen zusammen und vertreten ihre Inhalte nach aussen.»
In regelmässigen Sitzungen wird über die Zukunft der Kampagne gesprochen. Ziel sei in erster Linie die Schaffung eines öffentlichen Bewusstseins für die Verdrängung von Wohnraum und autonomen Kulturräumen. Der Wunsch, noch mehr Leute ausserhalb der engeren Szene zu erreichen, sei gross. Es sei im Interesse aller, die städtische Wohnpolitik zu hinterfragen.
Ein Merkblatt des Stadtrats hat für Ruhe gesorgt
Auf die Frage, wieso es ruhiger um die Besetzer*innen-Szene geworden sei, verweisen sie auf das «Merkblatt Hausbesetzungen» der Stadt Zürich. Bis vor einigen Jahren sei die Stadt relativ zurückhaltend mit den Besetzer*innen umgegangen. Das Merkblatt, das der Stadtrat als Reaktion auf Unruhen in den 80er- und 90er-Jahren eingeführt hatte, dient der Stadtpolizei als Richtlinie, um bei Hausbesetzungen angemessen vorgehen zu können.
Grundsätzlich liegt es im Ermessen des*r Eigentümer*in zu entscheiden, ob eine Besetzung der betroffenen Liegenschaft geduldet wird. Gemäss Artikel 186 des schweizerischen Strafgesetzbuches gilt eine Besetzung als Hausfriedensbruch. Damit eine Räumung sinnvoll ist, muss jedoch hinreichend klar sein, dass das Gebäude im Anschluss anderweitig genutzt wird. Damit will man eine erneute Besetzung verhindern.
Zusätzlich zum Strafantrag muss einer der drei Sachverhalte vorliegen: Abbruch- oder Baubewilligung, rechtmässige Neunutzung oder Sicherheitsgefährdung bzw. Denkmalschutz.
Beide Parteien, sowohl die Stadtpolizei als auch die Besetzer*innen, sind bisher gut mit dieser Praxis gefahren. Manu kommentiert: «Man darf nicht vergessen, dass Besetzer*innen auch zu den Häusern schauen. Sie halten die Wohnungen instand und flicken selbstständig Dinge.»
Allerdings haben nicht alle Eigentümer*innen Verständnis für die Argumente der Besetzer*innen. Markus stellt fest, dass die Stadtpolizei seit einigen Jahren vorsorglich Personenkontrollen durchführt, um festzustellen, wer bei Besetzungen beteiligt ist. Er bezeichnet dies als eine «Verschärfung der Repression durch die Hintertür». Denn das Merkblatt lasse eigentlich Raum für Interpretation.
Unternehmen machen mit Zwischennutzungen Profit
Tragen Zwischennutzungen ebenso dazu bei, dass es um die Besetzer*innenszene ruhiger geworden ist? Markus meint dazu: «Zwischennutzungen per se sind nicht das Problem, denn der Leerstand wird somit genutzt. Das Geschäft mit den Zwischennutzungen wird aber mit Kalkül von der Politik gegen die Besetzer*innen ausgespielt.
Die Stadt findet, dass Besetzungen dadurch gar nicht mehr nötig wären.» Es gäbe ausserdem Privatfirmen wie das Projekt Interim, die damit Geschäfte machen würden. Einem Bericht der «WOZ» zufolge werben sie damit, dass man sie zwischenschalten könne, um Besetzungen bei leerstehenden Häusern zu verhindern.
Städtisch regulierte Zwischennutzungen werden über die «Raumbörse» ausgeschrieben und die Mieten sind in der Regel fair. Die Raumbörse vermietet jedoch hauptsächlich Atelierräume. «Es gibt keine Ateliernot in der Stadt, sondern eine Wohnungsnot», hält Markus fest. Der Stadtrat ist sich dieser Not bewusst und versucht etwas dagegen zu machen. So soll der Anteil gemeinnütziger, kostengünstiger Wohnungen in Zürich bis 2050 von einem Viertel auf ein Drittel erhöht werden.
Eine Annäherung an das Ziel geschieht auf dem ehemaligen Koch-Areal. Dort entstehen in Zukunft 350 Genossenschaftswohnungen, jedoch auf Kosten eines Kulturraums. Mit dem besetzten Koch-Areal verschwindet eines der letzten grossen selbstverwalteten Räume der Stadt. An diesen Punkt knüpft die «Alles wird besetzt»-Kampagne an und weist darauf hin, dass autonome, unkommerzielle Kulturstätten im Laufe der Jahre zunehmend verschwunden seien. Hinzu komme, dass sich gewinnorientierte Pop-ups deren Ästhetik aneignen und sie so zusätzlich aus dem Stadtbild verdrängen würden.
Koch-Areal-Gemeinschaft ist umgesiedelt
Neben der Hardturmbrache befindet sich seit einem Monat ein Wagenplatz. Sam*, der auch bei «Alles wird besetzt» aktiv ist, ist mit etwa vierzig anderen Bewohner*innen des Koch-Areals kurz vor der Räumung dorthin gezogen.
Die Stadt toleriert ihren Aufenthalt dort vorerst. Sie sind zurzeit im Gespräch mit der Stadt, damit die Strom- und Wasserversorgung gewährleistet ist. Auf die Frage, wie sie sich in ihrem neuen Zuhause fühlen, meint Sam: «Natürlich ist es schade, dass das Koch-Areal sein Ende gefunden hat.»
Allerdings sollte man bedenken, dass es ganze zehn Jahre lang als Besetzung bestehen konnte, was angesichts der temporären Natur von Besetzungen recht lange sei. Er fügt an: «Wir leben immerhin stets mit dem Gedanken, bloss kurzzeitig an einem Ort verweilen zu können». Was am meisten weh täte, sei nicht der Abriss des Koch-Areals an sich, sondern das Ende von all dem, was darin stattgefunden habe.
Bald ein neuer Kulturort?
Sollten sie länger auf dem Gelände des ehemaligen Hardturmstadions bleiben können, wollten sie Konzerte und andere Events organisieren, «ähnlich wie im Kochareal», meint Sam. Zuerst müssten sie das ganze jedoch wohnlicher gestalten, denn von aussen mag es noch etwas abschreckend wirken.
«Unsere Nachbar*innen, die Nutzer*innen der Hardturmbrache, haben uns bereits herzlichst willkommen geheissen.» Wer weiss, ob nicht bereits diesen Sommer Live-Musik vom Wagenplatz durch die Strassen des Industriequartiers hallen wird.
*Namen geändert