Sexuelle Belästigung und Diskriminierung betreffen vor allem Studierende in ihrer Unterassistenzzeit, etwa am Unispital Zürich.

«Was im OP-Saal passiert, bleibt im OP-Saal»

Sexualisierte Belästigung und Diskriminierung sind im Medizinstudium weit verbreitet. Das zeigt eine neue Umfrage des Vereins Clash Zürich.

Gena Astner (Text) und Carlo Mariani (Bild)
31. März 2023

Laut einer Umfrage des Studierendenvereins Clash Zürich, der sich gegen Sexismus im Medizinstudium einsetzt, hat ein Drittel der befragten Medizinstudierenden bereits sexualisierte Belästigung oder Diskriminierung erlebt oder beobachtet. Die Situation an der Uni Zürich und an der ETH scheint sich dabei nicht gross von jener an anderen Hochschulen zu unterscheiden, wie ein Blick auf vergleichbare Umfragen der Clash-Ableger in Bern und Lausanne zeigt.

Die Befragung sollte erfassen, wo, durch wen und inwiefern Medizinstudierende der Uni Zürich und der ETH sexualisierte Belästigung erleben. Ebenso wurde ermittelt, welche Personengruppe am häufigsten Opfer von sexualisierter Belästigung und Diskriminierung wird. Neben dieser Bestandesaufnahme dient die Umfrage auch dem Zweck, eine faktenbasierte Verhandlungsbasis zu schaffen, die nicht verneint oder verharmlost werden kann. Die Befragung wurde von 613 Medizinstudierenden der Uni und der ETH vollständig ausgefüllt und ist hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse sowie der Jahrgangsverteilung repräsentativ.

Jede vierte Befragte wurde schon belästigt

Der Verein dahinter schloss sich im Juni 2021 zu einem Studierendenkollektiv zusammen. Clash setzt sich für ein Monitoring von sexualisierter Belästigung und Diskriminierung im medizinischen
Bereich sowie für die Sensibilisierung und Entwicklung von Präventionsmassnahmen ein. Zur Datenerfassung passte der Verein den sogenannten «Sexist Microaggressions Experience and Stress Scale» auf das Medizinstudium und auf alle Geschlechter an. Die gewählte Definition von sexualisierter Belästigung umfasst nicht nur sexuelle Übergriffigkeit, sondern auch sexualisierte Mikroaggressionen. Dazu zählen etwa absichtliche und unabsichtliche Verhaltensweisen und Aussagen wie subtile, alltägliche verbale oder nonverbale Beleidigungen, die sexistisch konnotiert sind.

So wurde etwa gefragt, ob man sich schon einmal absichtlich anders verhalten habe, um maskulin oder feminin zu wirken. Oder ob man geschlechtsspezifische Beleidigungen wie «Bitch» oder
«Macho» sowie unaufgeforderte Kommentare zum eigenen Körper oder Aussehen erfahren habe. Die Umfrage ergab, dass rund 24 Prozent der befragten Studentinnen im Medizinstudium bereits einmal Opfer von sexualisierter Belästigung oder Diskriminierung geworden sind. Bei Studenten waren es rund 8 Prozent. Insgesamt hat ein Drittel der Teilnehmer*innen miterlebt, dass jemand anderes betroffen war.

Die Ergebnisse zeigen, dass die grosse Mehrheit der Verursacher*innen – gut 69 Prozent – männlich war. Nach Clash Zürich könnte dies unter anderem daran liegen, dass in höheren Positionen weniger Frauen vertreten sind: «Die Daten zeigen, dass meist ein hierarchisch höher gestellter Mann eine hierarchisch tiefer gestellte Studentin belästigt.» Die Hälfte der genannten Verursacher*innen waren berufstätige Ärzt*innen.

Unis in der Westschweiz handeln schneller

Auffallend ist auch der erhebliche Anteil Dozierender, die in rund 13 Prozent der Fälle sexuelle Diskriminierung ausübten. Laut Clash können starre Hierarchien dazu beitragen, dass für Täter*innen Räume entstehen, «in denen etwas gerechtfertigt wird, was ausserhalb davon völlig abstrus wäre». Ausserdem befinde man sich als Student*in in einer Abhängigkeitsposition gegenüber den hierarchisch höher gestellten Personen. Nicht nur die Angst vor Konsequenzen, sondern auch die Angst davor, nicht ernst genommen zu werden, mache es schwieriger, sich zu wehren, sagt ein Vereins-mitglied.

Wie unterschiedlich die Erfahrungen von Medizinstudierenden sein können, zeigen folgende Schilderungen, die im Umfeld des Vereins gesammelt wurden: In einer Garderobe habe ein Oberarzt zu einer sich abdrehenden Unterassistentin gesagt: «Keine Angst, ich habe auch schon Frauen im BH gesehen.» Auch von Situationen unangemessener Berührungen wurde berichtet: «Im Operationssaal streichelt der stellvertretende Chefarzt die Hand einer Medizinstudentin und sagt zum Assistenzarzt: ‹Wollen Sie auch mal? Heutzutage nennt sich das ja schon sexuelle Belästigung. Früher war das ganz anders.›» Im Verlauf der Operation sei gar der Kommentar gefallen: «Du kannst dich geschmeichelt fühlen oder du kannst dich darüber aufregen. Aber was im Operationssaal passiert, bleibt im Operationssaal.»

Vor allem Studis im Wahlstudienjahr betroffen

In der Umfrage traten sexuelle Belästigung und Diskriminierung indes am häufigsten im Wahlstudienjahr auf, während dem die Studierenden ihre Unterassistenzstelle antreten und somit denselben Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind wie in ihrer späteren Karriere. «Die Tendenzen beginnen schon im Studium. Somit hat auch die Uni eine Verantwortung», findet der Verein.  Diese zeigt sich handlungsbereit. In einem Statement der Kommunikationsstelle der Uni wird betont, dass sich die Hochschule bereits seit dem Jahr 2007 durch die Einführung der Kommission «Reglement zum Schutz vor sexueller Belästigung» (RSB) sowie Workshops und Kampagnen «rasch, effizient und nachhaltig» gegen sexuelle Belästigung an der Uni einsetzt.

So hiess es im Statement: «Die Universität tut also bereits einiges in diesem Bereich und schätzt und unterstützt auch die Arbeit und das Engagement des Vereins Clash. Es ist uns ein grosses Anliegen, die Umfrageergebnisse dafür zu nutzen, eine Änderung herbeizuführen, die nachhaltig, langfristig und dauerhaft ist.» Weshalb die Umsetzung der von Clash gestellten Forderungen langsamer erfolgt als an den Unis in der Westschweiz, blieb allerdings unkommentiert.

Fachverein stritt noch 2020 Sexismus ab

Nach der groben Auswertung der Daten organisierte Clash Zürich ein Treffen mit Verantwortlichen der Hochschule, die sich kooperativ zeigten. Anwesend waren Parteien der Uni und der ETH, des Universitätsspitals Zürich wie auch der Verband Schweizer Assistenz- und Oberärzt*innen (VSAO) Zürich und Medical Women Switzerland. Anlässlich des
Sexual Harassment Day vom 23. März fand in Zusammenarbeit mit der Chancengleichheitskommission und der Kommission «Reglement zum Schutz vor sexueller Belästigung an der Universität Zürich» (RSB) ein Vortrag statt, an welchem die ausgewerteten Daten präsentiert wurden.

Noch im November 2020 sagte Lara Bader, damalige Co-Präsidentin des Fachvereins Medizin der Uni Zürich, der ZS, Sexismus spiele im Studium «keine grosse Rolle». Die Umfrageergebnisse zeichnen ein anderes Bild. Sexualisierte Belästigung und Diskriminierung haben weitreichende Folgen für Betroffene. Sie können zu gesundheitlicher Beeinträchtigung, zu Stellenabbrüchen und schwerwiegenden psychischen Problemen führen. Umso wichtiger ist es, dass die neutrale Anlaufstelle der Universität RSB sichtbarer gemacht wird. Auf dem Aktionsplan des Vereins steht als nächstes eine Meldestelle für Betroffene, die von Medizinstudierenden betrieben werden soll. Diese soll ab Mai verfügbar sein.