«Die Schweiz steht in der Verantwortung»
Der Bund soll ein Holocaust-Memorial errichten. Der Historiker Gregor Spuhler setzt sich dabei für eine kritische Ausgestaltung ein.
Herr Spuhler, warum braucht es ein Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus in der Schweiz?
Wir von der Steuerungsgruppe für das Memorial finden, dass es eine Auseinandersetzung mit der NS-Zeit braucht. Bis jetzt basieren alle Denkmäler, die in der Schweiz an den Holocaust erinnern, auf privater Initiative. Wir wollen, dass die Schweiz sich als Staat auf offizieller Ebene mit der Geschichte auseinandersetzt, wie das viele andere Länder auch tun.
Was wollen Sie mit dem Mahnmal genau erreichen?
Bei einem Memorial geht es nicht nur um die Vergangenheit. Es soll auch zum Nachdenken über die Gegenwart anregen: Welche Bedeutung haben Menschenrechte, wo liegt die Verantwortung in einer Flüchtlingspolitik? Wie geht man als neutraler Staat mit Diktaturen um? Es sind sehr aktuelle Fragen, die sich schon in der NS-Zeit gestellt haben. Das Memorial soll aus
einem Gedenk- und einem Vermittlungsort bestehen, sodass auch Lehrveranstaltungen und Workshops mit Schüler*innen durchgeführt werden können.
Wann kommt es, wo soll es errichtet werden?
Diesen Frühling wird der Bundesrat ein sogenanntes Aussprachepapier mit verschiedenen Ideen des Departements für auswärtige Angelegenheiten diskutieren und dann bekannt geben, wie es weitergeht. Es ist jetzt schon einige Zeit vergangen, seitdem die beiden Motionen im März 2021 im Stände- und Nationalrat eingereicht wurden. Diese haben den Bundesrat beauftragt, einen offiziellen Gedenkort zu schaffen und die Hauptverantwortung für die Finanzierung übernehmen. Es scheint aber, dass sich keines der Departemente um das Thema gerissen hat und sich niemand richtig zuständig fühlt. Es ist nicht sehr weit oben auf der Prioritätenliste.
Wird schon über einen möglichen Standort diskutiert?
Unsere Idee ist, dass in Bern, wo das Bundeshaus als Symbol für die politische Verantwortung des Staates steht, ein öffentlich zugängliches Denkmal als Ort der Erinnerung geschaffen wird. Dazu muss das Projekt zuerst ausgeschrieben und eine Jury eingesetzt werden. Im Vergleich zum
angedachten Vermittlungsort – idealerweise ein Museum – ist das Denkmal ein relativ einfaches Projekt.
Die Motion für ein Memorial wurde von der SVP und der SP eingereicht. Hat ein solches Vorhaben so viel Rückhalt in der Bevölkerung?
Solange es dabei bleibt, einfach mal das Thema aufs Tapet zu bringen, trifft das in der Politik sicher zu. Sobald es um die Kosten geht, dürfte es wohl mehr Diskussionen geben. Aber ich freue mich natürlich, wenn die politische Koalition erstmal so breit ist. Auf diese Weise kann es nicht direkt wieder politisch instrumentalisiert werden, wie es damals in den 1990er-Jahren zur Zeit der Bergier-Kommission passiert ist. Unser Projekt ist breit aufgestellt, sodass man es nicht als links abstempeln kann.
Im eingereichten Konzept geht es nicht nur um Schweizer Opfer des Nationalsozialismus. Warum?
Wir glauben, dass die Schweiz in einer historischen Verantwortung ist, die nicht nur die Schweizer Opfer betrifft. Zur Zeit des Nationalsozialismus hat man die Judenverfolgung nicht als Asylgrund anerkannt und sehr viele Menschen an der Grenze zurückgewiesen. Wenn wir nur von Schweizer Opfern reden, geht leicht vergessen, dass die Schweiz als neutraler Staat eine problematische Politik betrieben hat. Fest steht, dass wir nicht nur an die Juden und Schweizer Opfer erinnern wollen, sondern auch etwa an die verfolgten Sinti und Roma sowie die an der Grenze zurückgewiesenen Flüchtlinge.
Zusätzlich soll es eine Opfer-Datenbank geben. Wie kann man sich das vorstellen?
Im Archiv für Zeitgeschichte erhalten wir nach wie vor Anfragen nach Unterlagen von Leuten aus der ganzen Welt, deren Grossmutter zum Beispiel in die Schweiz geflüchtet war. Wer in der Schweiz überlebt hat, hat in aller Regel auch Spuren in Dokumenten hinterlassen, die heute bereits in Archivdatenbanken erfasst sind. Es gibt aber ein grosses Forschungsdefizit, was die zurückgewiesenen Flüchtlinge angeht, das sind etwa 20’000 Menschen. Über sie wollen wir mehr wissen und, wo möglich, deren Schicksale rekonstruieren. In einem ersten Schritt sollen erstmal die Schweizer Opfer erfasst werden. In einem nächsten die an der Grenze Abgewiesenen.
Gibt es ein umfassendes Bewusstsein in der Schweizer Bevölkerung?
Es gibt zwei Tendenzen: Die einen wollen die Schweiz für alles Mögliche mitverantwortlich und beinahe zur Täterin machen. Aber jemanden an der Grenze abzuweisen, ist nicht dasselbe, wie Millionen von Menschen im Konzentrationslager zu ermorden. Auf der anderen Seite denken gewisse Leute, das Ganze habe nichts mit der Schweiz zu tun – was natürlich völlig falsch ist. Denn selbstverständlich hat man eine Verantwortung, wenn man Leute an der Grenze zurückgewiesen hat, im Wissen, dass sie höchstwahrscheinlich ermordet werden. Dass dies so war und die Schweiz da schwere Fehler gemacht hat, ist aber nicht mehr so umstritten wie früher.
Sie kritisieren diejenigen, die die Schweiz als Täterin darstellen wollen. Aber wäre es nicht auch richtig?
Ich will historische Reflexionsfähigkeit fördern. Es nützt wenig, nur zu sagen: «Ja, wir haben versagt.» Eher sollte man reflektieren: Was hätte man besser machen können? Und was ist unsere Rolle als Land in schwierigen, kriegerischen Zeiten? Ich denke auch nicht, dass das Wissen über die Fehler der Vergangenheit schon garantiert, dass wir daraus die richtigen Schlüsse für die Gegenwart ziehen. Die Verbindung zwischen historischem Bewusstsein und gegenwärtigem Handeln ist viel komplexer und keineswegs so eindimensional, wie wir es uns mit den Floskeln von «Nie wieder» oder «wir haben aus der Vergangenheit gelernt» vorgaukeln.
Ist es nicht paradox, dass die Schweiz zwar Mitglied der International Holocaust Remembrance Alliance ist, aber selber noch kein offizielles Mahnmal hat?
Ja, dadurch dass die Schweiz dort Mitglied ist, kommt sie nun ein wenig unter Druck, etwas zu tun! Der Druck ist allerdings begrenzt, denn als neutraler und vom Krieg verschonter Staat lässt sie sich kaum dem Schema von Täter, Opfer oder Befreier zuordnen. Hinzu kommt, dass die Schweiz keine nationale, vom Staat geförderte Gedenkkultur wie zum Beispiel Deutschland hat. Und das ist die Herausforderung: Jetzt sollte die Schweiz handeln, obwohl sie sonst keine staatlich finanzierten Mahnmale errichtet.
Warum tut sich die Schweiz immer so schwer, wenn es um die Aufarbeitung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs geht?
Eine schwierige Frage! Die selbstkritische Auseinandersetzung der Schweiz mit ihrer Geschichte zur Zeit des Nationalsozialismus erfolgte selten freiwillig, sondern oft auf Druck von aussen oder erst nach
Aktenfunden im Ausland. Ein Grund dafür sind wohl die innenpolitischen Machtverhältnisse während des Zweiten Weltkriegs wie auch zur Zeit des Kalten Kriegs, wo kritische Forschende als «Nestbeschmutzer» galten. Vermutlich spielt aber auch die Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung als neutraler Rechtsstaat und der Fremdwahrnehmung der Schweiz durch die Alliierten als Profiteur und Kollaborateur der NS-Raub- und Mordpolitik ein Rolle. Allerdings tun sich die meisten Staaten mit Selbstkritik schwer: Österreich sah sich jahrzehntelang nur als «erstes Opfer» Hitlers, in Frankreich und Italien waren nach dem Krieg angeblich fast alle in der Résistance gewesen und so weiter.
Wird die Aufarbeitung der NS-Zeit für die Schweiz mit der Errichtung Ihres Mahnmals abgeschlossen sein?
Nein, die Vergangenheit ist nie abgeschlossen. Geschichte ist eine Form von Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. So wie die Gegenwart, kann man auch die Vergangenheit nie vollständig erfassen.