«Auch Ältere können neue Wörter lernen»
Die Aktivistin Anna Rosenwasser hat das «Rosa Buch» geschrieben. Darin räumt sie mit Vorurteilen inner- und ausserhalb der queeren Community auf.
Anna Rosenwasser, für wen ist das «Rosa Buch» geschrieben und wer sollte es lesen?
Wir haben alle queere Leute in unserem Umfeld. Wenn wir bisher noch nie wissentlich einer queeren Person begegnet sind, dann heisst das, dass sich bei uns noch nie jemand genug safe gefühlt hat, um sich zu outen. Das «Rosa Buch» ist für Mitmenschen von Queers und für Queers selbst – statistisch gesehen sind das alle. Meine Intention war es, ein zugängliches Buch zu schaffen, das nicht pädagogisch ist. Ein Buch, das nicht Schuldgefühle einredet, sondern diese abbauen kann.
In deinem Buch drehen sich viele Texte um Bisexualität und die Ermächtigung dieser sexuellen Orientierung. Bräuchte es auch innerhalb der Community mehr Aufklärung?
Sehr fest. Nur weil man zu einer minorisierten Gruppe gehört, ist man nicht automatisch sensibel für alles. Wir haben eine Tendenz, vereinfacht zu denken und streng einzuordnen, sehr häufig binär. Das ist eine sehr menschliche Eigenschaft, die man als queerer Mensch genauso hat. Man sieht das zum Beispiel bei der Akzeptanz von Bisexualität innerhalb der queeren Community. Anzuerkennen, dass es nicht nur zwei Arten von Orientierungen gibt, dass Bisexualität existiert und diese sich sehr unterschiedlich äussern kann: Diesen Gedankenschritt machen viele Queers nicht. Viele denken, sexuelle Orientierung sei das, was man macht und nicht das, was man empfindet. Als wäre sexuelle Orientierung nur der Weg, den man geht und nicht die Richtung, in die man schaut.
Queers zweifeln selbst an der Bisexualität?
In der queeren Community und in der nicht-queeren Welt glauben viele nicht wirklich an Bisexualität. Das heisst, man geht irgendwie immer davon aus, dass bisexuelle Frauen irgendwann zu Männern zurückkehren und bisexuelle Männer eigentlich schwul sind. Also denken eigentlich alle, dass bisexuelle Leute in Wirklichkeit auf Männer stehen, was ich sehr verdächtig finde.
Wie stehst du zu gendergerechter Sprache? Siehst du langfristiges politisches Potenzial darin?
Ich glaube, gendergerechte Sprache wäre dann nebensächlich, wenn wir sie einfach einführen würden. Leute jammern aber darüber, wie schwierig sie sei. Dieses Thema wird instrumentalisiert, um queere und feministische Anliegen lächerlich zu machen, weil uns allen – nicht nur feministischen Menschen – sehr viel an Sprache liegt. Sprache repräsentiert, wie wir uns die Welt vorstellen. Die Ablehnung von einem Genderstern ist nicht einfach die Ablehnung einer vermeintlich nicht ästhetischen Sprache. Sie steht für eine Ablehnung einer Vielfalt, die man nicht sehen möchte. Für eine Ablehnung queerfeministischer Anliegen, die man gerne wieder unsichtbar machen würde. Gendergerechte Sprache wäre eigentlich nicht mein Fokusthema, aber es repräsentiert halt mein Fokusthema. Nämlich: Wie fest sind Leute bereit zu akzeptieren, dass es nicht nur mehr als ein Geschlecht gibt, sondern mehr als zwei?
In früheren Texten hast du Vokabular wie «Schwuchtel» oder «Schlampe» verwendet. Wirkt dies nicht provokativ?
Es ist wichtig, dass man sich Wörter zurückerobert, die von anderen Leuten benutzt werden, um einen abzuwerten. Das hat historisch und sprachhistorisch sehr viel Wert. Gleichzeitig fühle ich mich im Nachhinein nicht mehr hundertprozentig wohl damit, wenn ich Texte in meinem Buch anschaue, in denen das Wort «Schwuchtel» vorkommt. Denn ich persönlich werde nicht als «Schwuchtel» bezeichnet, nie. Es fühlt sich daher nicht mehr richtig an, dass dies drinsteht. Das ist mittlerweile eine von den wenigen Sachen, die ich rückblickend anders machen würde. Im Falle der anderen Wörter, die aber sehr wohl benutzt werden, um Frauen abzuwerten, stehe ich voll dahinter. Das Wort «Schlampe» ist eines von vielen Wörtern, die erfunden wurden, um Frauen ihre eigenen Entscheidungen abzusprechen. Darum verwende ich das Wort sehr gerne. Es ist meine Entscheidung im Sinne von: «Fick dich Roland, lass mich rumschlampen.»
Den Namen «Roland» benutzt du oft stellvertretend für einen Cis-Mann der Babyboomer Generation. Kann dies nicht pauschalisierend und reduzierend wirken?
Ich bekomme diese Kritik sehr häufig. Das ist ein vorherrschender Denkfehler in der Gesellschaft und darf nicht die Hauptkritik sein. Es ist wichtig, dass wir generelle Beobachtungen über gesellschaftliche Tendenzen in Worte fassen können. Ich möchte damit bezeichnen, dass ein Mann von einer gewissen Generation strukturell bedingt eine Tendenz dazu hat, Frauen abzuwerten und Frauen mit zu wenig Respekt zu behandeln. Weiter ist es rassistisch zu denken, Queerfeindlichkeit käme von Migrant*innen – ein sehr verbreitetes Missverständnis. Und auf das möchte ich durch das Benutzen sehr schweizerischer Namen wie Roland und Reto hinweisen.
Wie schätzt du diesbezüglich die Wichtigkeit von Labels ein?
Neue Wörter können immer abschrecken. Aber auch die ältesten Generationen in unserem Leben sind fähig, neue Wörter zu adaptieren. Das Ablehnen von einem Label kommt sehr häufig davon, dass man die Sache selbst ablehnt. Ich meine, selbst die ältesten Generationen können Wörter wie «Brunch» oder «Computer» verwenden und sie können das «I» von «iPhone» klein schreiben, obwohl danach ein grosses «P» folgt. Wir alle sind fähig, neue Wörter zu lernen. Ich verstehe, wenn man anfangs überfordert ist. Aber wir dürfen auch Ansprüche haben. Es geht nicht darum, dass sich jeder Mensch mit diesen Labels bezeichnen muss. Viele sagen, sie hätten keinen Bock, sich mit einem spezifischen Label zu definieren. Ich finde es aber sehr wichtig, dass sie existieren, unter anderem aus politischen Gründen; es ist für mich aus politischer Sicht wichtig, dass ich bisexuell bin. Ich möchte dies sichtbar machen und Community schaffen können. Schlussendlich finden Leute, die uns Gewalt antun möchten, auch sehr klare Wörter. Wenn diese Leute Wörter finden, dann müssen wir Wörter für uns selber finden, um für unsere Existenzberechtigung zu kämpfen.
Gibt es Menschen, die man boykottieren sollte? Und wenn ja, welche? Im Text «Lächeln gegen rechts» stellst du dir diese Frage, nachdem du mit politischen Gegner*innen feiern gegangen bist. Wie würdest du heute diese Frage beantworten?
Die Fragen, die der Text aufwirft, treiben mich bis heute um. Ob mir Menschen sympathisch sind oder nicht, entläuft nicht immer entlang der Linie, ob sie so abstimmen wie ich. Es gibt Menschen, die ich sehr gerne habe, die ein sehr anderes Werteverständnis haben. Und manchmal passiert es mir, wie an diesem Abend, dass ich politische Gegner*innen kennenlerne, mit denen menschlich einfach ein guter Vibe da ist. Das an sich ist noch nicht das Problem. Die Frage ist: In welchem Mass tritt man in einen Dialog? Denn in einen Dialog treten wird sehr gerne romantisiert: «Einfach einmal miteinander reden.» Das Problem ist halt, wenn ich als queere Person mit einer rechten Person in einen Dialog trete, ist das nicht eine symmetrische Situation, in der wir beide total bereichert durch eine neue Perspektive daraus hervorkommen. Sondern mir wird meine Existenz abgesprochen, und sie*er hat einfach einen interessanten Fight mit einer Linken.
Es gibt in diesem Sinn keine Mitte?
Es gibt keine Mitte, weil die Mitte zwischen einem brennenden Haus und einem nicht brennenden Haus immer noch ein brennendes Haus ist. Man kann mich nicht ein bisschen akzeptieren und man kann nicht nur ein bisschen dafür sein, dass trans Menschen überleben.