Der Unmut ist gross: Auch am 11. März demonstrierte Jung und Alt in Paris. Foto: Twitter (@ALéaument)

In Frankreich gehen Millionen gegen die Rentenreform auf die Strasse – zu Recht

Analyse — Die geplante Reform ist unnötig und missraten. Sie verbessert die Bedingungen für die Arbeiter*innen nicht. Der französischen Regierung geht es um etwas ganz anderes.

14. März 2023

In Frankreich rühren die Gewerkschaften derzeit mit der grossen Kelle an. Circa 500‘000 Menschen demonstrierten vergangenen siebten März in Paris gegen die Rentenreform. Landesweit waren es laut Polizeiangaben an die 1,25 Millionen Menschen, Gewerkschaften sprechen von bis zu drei Millionen. Eisenbahner*innen, Flughafenarbeiter*innen, Pfleger*innen, Arbeiter*innen aus dem Energiesektor, Arbeitslose, Studierende, Schüler*innen und sogar Bürgermeister*innen zeigten sich am sechsten Tag der Mobilisierung in keiner Weise streikmüde und gingen auf die Strasse.

Die Rente als heilige Kuh

Wenn unsere Nachbar*innen streiken, stösst dies in der Schweiz oft auf Unverständnis. Warum müssen die Menschen in Frankreich immer diese Attitüde an den Tag legen? Können sie nicht einfach «normal» arbeiten gehen, wie alle vernünftigen Menschen? Und was ist schon Rentenalter 64, hierzulande geht man mit 65, bald vielleicht mit 67 Jahren in Rente, und das bei 42 Arbeitsstunden pro Woche. Diese selbstgewisse Sicht der Schweiz offenbart ein Unverständnis in Bezug auf das französische System, ihre Politik und ihre Politikkultur.

Dass die Menschen in Frankreich gegen eine Rentenreform auf die Strasse gehen, mag nicht weiter überraschen, so gilt die Rente dort als heilige Kuh. Als in den 1980-Jahren die Rente mit 60 eingeführt wurde, war dies eine grosse soziale Errungenschaft. Der damalige Ministerpräsident Alain Juppé sah sich 1995 aufgrund von Protesten gezwungen, seine Pläne zur Abschaffung von Sonderprivilegien bestimmter Berufsgruppen zurückzuziehen. Auch als Sarkozy 2010 das Renteneintrittsalter auf 62 Jahre erhöhte, folgten massive Proteste. Nun will die Regierung Macron unter Premierministerin Élisabeth Borne, Arbeitsminister Olivier Dussopt und Finanzminister Bruno Le Maire das Rentenalter sukzessive von 62 auf 64 Jahre erhöhen. Die Beitragsdauer soll auf 43 Jahre verlängert und Sonderregelungen abgeschafft werden. So sollen künftig auch Arbeitende im öffentlichen Dienst wie beispielsweise Metrofahrer*innen, die derzeit mit 54 in Rente gehen, erst ab 64 ihre Arbeit niederlegen dürfen.

Einmal Steuergeschenke, bitte!

Doch warum genau soll die Rente erhöht werden? Natürlich hat jede Rentenreform volkswirtschaftliche Gründe. Doch in diesem Fall liegen sie anderswo, als man vielleicht vermuten würde. Im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum droht Frankreich keine Überalterung, die langfristige Finanzierung der Rente ist gesichert. Die hohe Geburtenrate des Landes und die Einwanderung sorgen dafür, dass es an Menschen im arbeitsfähigen Alter nicht mangelt. Zwar droht Frankreichs Rentenkassen bis 2030 ein Loch von jährlich 13 Milliarden Euro, angesichts eines jährlichen Gesamtvolumens von 330 Milliarden Euro ist dieser Betrag jedoch nicht ausserordentlich gross. Und wenn man bedenkt, dass Frankreich jährlich 207 Milliarden Euro Staatshilfen an Unternehmen ausschüttet, ist nicht davon auszugehen, dass es 2030 zu einem Staatsbankrott kommen wird.

Die konkreten Gründe für die Rentenreform liegen wie gesagt woanders. Nämlich will die Regierung mit der Rente künftig öffentliche Dienstleistungen querfinanzieren. Dies stellte Olivier Véran, Pressesprecher der Premierministerin, im Juni 2022 klar. Im September 2022 doppelt Finanzminister Bruno Le Maire nach: Es brauche die Rente um Spitäler, Schulen, Gymnasien und Universitäten finanzieren zu können. Die Finanzierung öffentlicher Einrichtungen ist gefährdet, da wegen der Streichung der CVAE, einer Unternehmenssteuer für besonders finanzstarke Unternehmen, Frankreich ab 2023 jährlich 8 Milliarden Euro entgehen. Ein wenig überspitzt gesagt, ist die Rentenreform also nötig, um den grossen Unternehmen Steuergeschenke zu machen. Angesichts des eigentlichen Zwecks der Rentenkassen ist dies ein Skandal.

Die Last fällt auf Erwerbstätige

So lässt sich die Rentenreform in eine neoliberale Politik einordnen, welche die Wirtschaft liberalisieren und die Arbeitsrechte untergraben will. Gewinne werden privatisiert, Kosten vergesellschaftlicht, es kommt zu einer Umverteilung von arm zu reich. Bereits 2016 hat der damalige Präsident François Holland mit einer Arbeitsrechtsreform die Rechte Arbeitender empfindlich getroffen. Die 35-Stunden-Woche und der Kündigungsschutz wurden gelockert, Regelungen zu Frist- und Leiharbeit ausgeweitet und eine umstrittene Scheinselbständigkeit ermöglicht. Letztere erlaubt es Arbeitgeber*innen, gewisse Leistungen, die bisher von Angestellten ausgeführt wurden, an Selbständige auszulagern. Für deren Sozialabgaben müssen die Unternehmen dann nicht mehr aufkommen, zudem können sie Arbeitsverhältnisse schneller aufbrechen.

Im Hinblick auf die zunehmende Prekarisierung der Bevölkerung – die Gelbwestenproteste 2018 können als Reaktion auf diese gelesen werden – schlagen Ökonom*innen, NGOs, Politikwissenschaftler*innen, Oppositionsparteien und Gewerkschaften anstelle der Rentenreform andere Finanzierungen für das Loch in der Kasse vor. Höhere Abgaben von Seiten der Arbeitgeber*innen oder eine Steuer auf die Vermögen der 42 Milliardär*innen. Auch mit einer konsequenteren Ahndung von Steuerflucht und Steuerbetrug könnte der französische Staat jährlich bis zu 100 Milliarden Euro einnehmen. Als das NGO Oxfam vorschlug, die Rente mit einer Reichensteuer zu finanzieren, antwortete Finanzminister Bruno Le Maire jedoch: «Wie immer bringt das Hilfswerk alles durcheinander: Wir finanzieren das Rentensystem nicht durch die Besteuerung von Kapital, sondern durch Beiträge der Erwerbstätigen.» Das mag so sein, nur vergisst der Finanzminister hier leider, das mit der Rente Steuergeschenke finanziert werden sollen.

Artikel 49.3 als Geheimwaffe Macrons

Es gibt noch einen zweiten Grund, weswegen Macron die Rentenreform unbedingt durchsetzen will. Sein politisches Vermächtnis steht auf dem Spiel. Macron gilt als langsamer Präsident, der nur wenige Neuerungen einbringen konnte. In seiner zweiten Amtszeit, wo er die Mehrheit im Parlament verlor, hat er bisher noch nichts zu Stande gebracht. Wenn er nun auch an der Rentenreform scheitert, dann wird er nicht als Reformer und folglich auch nicht als grosser Präsident in die Geschichte Frankreichs eingehen.

Man könnte nun denken, dass Macron alles daransetzen würde, um seine Rentenreform zu verteidigen. Dies tut er auch, doch lässt er sich weder im Hémicycle, wie das französische Parlament genannt wird, noch in den Medien blicken. Vor den Medien repräsentiert ihn seine Premierministerin Élisabeth Borne. Arbeitsminister Olivier Dussopt ist die undankbare Aufgabe zugefallen, die Rentenreform vor dem Parlament zu verteidigen. Dort wird sie wahrscheinlich keine Mehrheit erhalten. Geeint in Uneinigkeit über ihre Gründe lehnen Parteien von Links bis Rechts die Rentenreform ab. Doch Macron hat das Parlament gar nicht nötig, um seine Reform durchzudrücken.

Verfassungsartikel 49.3 erlaubt es der Regierung, Gesetze ohne Abstimmung im Parlament zu verabschieden. So muss lediglich der Senat darüber entscheiden. Dieser ist deutlich konservativer und wirtschaftsliberaler aufgestellt, so dass die Reform dort eine Chance hat. Verfassungsartikel 49.3, welcher nur für Staatsfinanzen und Sozialpolitik angewandt werden kann, ist höchst umstritten. Mit 49.3 untergräbt Macron grundlegende Meinungsfindungsprozesse der Republik, dennoch hat er seit Mai 2022 bereits zehnmal von ihm Gebrauch gemacht. Übertroffen wird er damit nur vom linksgerichteten François Mitterand, der Artikel 49.3 in seiner Legislaturperiode von 1988 bis 1991 ganze 28 mal angewandt hatte. Nach dieser turbulenten Zeit wurde es still um Artikel 49.3. In den 2000er-Jahren galt es als Stilbruch, von ihm Gebrauch zu machen. Nun hat Macron eine Zeitenwende eingeläutet.

Auflösung des Parlaments nicht ausgeschlossen

In Anbetracht dieser Umstände ist verständlich, dass zwei Drittel der Französ*innen gegen die Rentenreformen sind. Längst richten sich die Proteste auf der Strasse nicht mehr ausschliesslich gegen diese. Nämlich richten sie sich gegen die neoliberale Transformation der Gesellschaft im Allgemeinen, gegen Macrons Politikstil und das absolutistische Gehabe seiner Regierung. Neben der Rentenreform werden auch zahlreiche andere Beschlüsse der Regierung beanstandet, so beispielsweise anstehende Schulschliessungen in Paris, die Selektion von Zugang zu höherer Bildung und ein Gesetz, welches Hausbesetzer*innen und Obdachlose kriminalisieren soll. Über dieses wurde jedoch noch nicht entschieden.

Am Sonntagabend hat der Senat die Rentenreform angenommen. Am Mittwoch, 15. März, trifft sich nun eine Kommission aus Abgeordneten des Senats und des Parlaments. um einen Kompromiss zwischen der Nationalversammlung und dem Senat zu Stande zu bringen. Ob ein solcher gefunden wird, ist unklar. Und selbst wenn er zustande kommt, müssten ihm immer noch beide Kammern zustimmen. Élisabeth Borne verhehlt nicht, dass sie im Falle eines Scheiterns der Rentenreform auf Artikel 49.3 zurückgreifen würde. Was dann passiert, ist unklar. Die Linke könnte einen Misstrauensantrag gegen die Regierung stellen oder auch nicht. Marine le Pen hat diesen bereits vor drei Wochen eingereicht. Auf einen Misstrauensantrag könnte Macron mit der Auflösung des Parlaments reagieren. Gedroht hat er damit bereits im Herbst 2022.

Auch der Druck von der Strasse steigt. Schulen und Raffinerien bleiben geschlossen, der Müll wird nicht mehr eingesammelt und auch die Metro fährt nur bedingt. Nach der erfolgreichen Mobilisierung letzten Dienstag stand auch der feministische Streiktag vom achten März unter dem Stern der Rentenreform. Am elften März wurde nachgedoppelt, der Streik war kleiner, dafür radikaler: Autos gingen in Flammen auf. Und für den 15. März ist ein weiterer Streiktag angesetzt. Dann wird der Regierung die Quittung präsentiert.