«Wir sollten für soziale Medien bezahlen»
Der Psychologe Christian Montag kritisiert das Geschäftsmodell der grossen Tech-Konzerne und erklärt, weshalb wir so lange online sind.
Herr Montag, sind Sie oft am Handy?
Manchmal ein bis zwei Stunden pro Tag, manchmal deutlich mehr. Mittlerweile wissen wir durch viele Studien, dass die Bildschirmzeit-Debatte nicht richtig taugt, um das Wohlbefinden der Menschen im digitalen Bereich vorherzusagen. Es kommt vielmehr darauf an, was wir online tun, wie wir interagieren und in welchem Kontext.
Weshalb verweilen wir länger am Handy, als wir eigentlich wollen?
Die Tech-Industrie hat ein Interesse daran, dass wir möglichst viel Zeit auf ihren Apps verbringen. Deshalb haben die Entwickler*innen bewusst Elemente eingebaut, die uns fesseln. Zum Beispiel den Like-Button oder das Endless Scrolling, also dass die Feeds von Instagram und Co. endlos lang sind.
Können Sie die Funktion des Like-Buttons erklären?
Er wurde von Facebook im Jahr 2009 eingeführt und erfüllt zwei Funktionen: Zum einen sagt er dem Konzern, was wir gut finden, sodass jeder Feed personalisiert werden kann und die Marketingindustrie unsere Vorlieben kennenlernt. Alles, was in meinem Feed auftaucht, soll für mich interessant sein. Zum anderen ist der Like-Button ein sozialer Verstärker: Er triggert das Belohnungssystem und trainiert den Habitus, immer wieder zu posten.
Wie machen die Social-Media-Konzerne unsere Nutzung zu Geld?
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff spricht von «surveillance capitalism», Überwachungskapitalismus. Social-Media-Nutzer*innen bezahlen den Zugang zur Plattform nicht mit Geld, sondern mit Daten. Daher das Ziel, die Onlinezeiten zu verlängern: Wer länger scrollt, hinterlässt mehr Daten. Diese erlauben es, Persönlichkeitsmerkmale der Nutzer*innen abzuschätzen: Gold in den Augen der Werbeindustrie! Für die Möglichkeit, die Onlinenutzenden gezielt zu bewerben, muss die Werbeindustrie bezahlen. Eines gilt es aber zu präzisieren: Die Daten selbst werden nicht verkauft.
Wie gut kennen uns Meta und Co. schon?
Genau wie die unabhängige Akademie betreibt auch Meta Forschung. Und gegenüber Akademiker*innen haben die Forschenden von Meta einen Riesenvorteil: Der Konzern hat das grösste Biotop an Menschen, das je vermessen wurde – circa drei Milliarden. Auf Apps von Meta wird getrackt, was sie schreiben, wo sie am längsten drüber scrollen, wo sie hängen bleiben. Ihre Bilder werden ausgewertet: Welche Emotionen zeigen sie darauf? Wie oft lachen sie? Wie bunt sind ihre Bilder? Aus all diesen Daten zieht man Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsstruktur und weitere Variablen der Nutzer*innen.
Zum Beispiel?
Einfacher zu bestimmen sind laut Studien möglicherweise Eigenschaften mit zwei Kategorien: zum Beispiel das Geschlecht, solange man nur die Werte «männlich» und «weiblich» untersucht. Genauso die Unterscheidung zwischen «heterosexuell» und «homosexuell», respektive die Unterscheidung zwischen «demokratisch» und «republikanisch» in den USA.
Schwieriger zu vermessen sind metrische Eigenschaften, zum Beispiel die Extraversion: Nutzer*innen auf einer Skala von «introvertiert» bis «extrovertiert» genau zu verorten, bleibt eine Herausforderung. Dabei gilt für alle Persönlichkeitsdimensionen, dass die Schätzung für größere Gruppen ganz gut klappt, nicht aber auf Individualebene. Doch es wird auch bei den Schätzungen metrischer Eigenschaften Fortschritte geben.
Wie würde sich meine Extraversion auf die Werbung auswirken, die ich erhalte?
Ich nenne in meinem Buch eine Studie der Wissenschaftlerin Sandra Matz, die den Effekt von personalisierter Werbung untersuchen wollte. Unter anderem liess sie einer Gruppe von Personen, die aufgrund ihres digitalen Fussabdrucks als introvertiert eingeschätzt wurden, eine Werbebotschaft mit dem Titel «Beauty doesn’t shout» zukommen. Die Personen, die als extrovertiert eingeschätzt wurden, bekamen ein Video mit tanzenden Menschen zu sehen. Die Werbung bediente also die Introversion respektive die Extraversion der Proband*innen. Im Vergleich zu nicht-personalisierter Werbung zeigte sich eine Erhöhung der Klickzahl von bis zu 40 Prozent. Und die Kaufrate stieg um bis zu 50 Prozent. Die Zahlen untermauern das Potenzial des «Psychological Targeting».
Was sind Ihrer Ansicht nach die grössten Gefahren des Überwachungskapitalismus?
Ich sehe mindestens drei Gefahren: erstens die langen Onlinezeiten, die im Extremfall zu einer Onlinesucht führen können. Auch wenn der Suchtbegriff in diesem Kontext noch nicht offiziell anerkannt ist, gibt es Nutzer*innen von Social Media, die ein suchtähnliches Nutzungsverhalten entwickeln. Zweitens die Manipulationsmöglichkeiten der Konzerne: Wie der Cambridge-Analytica-Skandal zeigte, kann nicht nur das Konsumverhalten, sondern auch das Wahlverhalten beeinflusst werden. Das stellt eine Gefahr für die Demokratie dar. Und eine dritte Bedrohung, die ich immer wieder betonen muss, ist natürlich der komplette Verlust unserer Privatsphäre.
Befürworten nicht auch Tech-Konzerne einen verantwortungsvollen Umgang?
Auf Instagram kann man seine Bildschirmzeit einsehen und eine Zeitlimite festlegen.
Diese Features sind meiner Ansicht nach reines Marketing. Die Konzerne sind keine Wohltäter! Hätte die Kontrolle der Bildschirmzeit durch die Nutzer*innen einen negativen Effekt auf das Datengeschäftsmodell, würde das Feature bei Meta wohl schnell wieder entfernt. So zumindest meine These. Für mich ist das Ganze voller Ironie: Haben nicht dieselben Konzerne jahrelange Forschung betrieben, um Apps zu kreieren, von denen niemand die Finger lassen kann?
Die Konzerne machen das Individuum verantwortlich.
Genau. Die Tools zur Kontrolle der Bildschirmzeit kreieren ein Narrativ des «Victim Blaming». Wir kennen das von der Alkohol- und Nikotinindustrie: Schuld sind immer die Konsument*innen. Dem muss man entgegentreten. Zwar glaube ich an die Veränderungskraft des*der Einzelnen. Trotzdem gilt für mich: Nicht das Individuum muss sich wesentlich ändern, sondern die Techindustrie!
Gibt es denn Alternativen zum Datengeschäftsmodell?
Es bedarf eines kompletten Umdenkens, wie diese Plattformen aussehen sollten. Mein Vorschlag wäre folgender: Wir sollten für die Nutzung der sozialen Medien mit Geld bezahlen. Im Gegenzug müssten die Hersteller sich an gewisse Bedingungen halten. Zum Beispiel dürften sie nur noch Daten erheben, die für den Betrieb der Plattformen notwendig wären, und den Zugang keinem Werbeunternehmen mehr gewähren. Die Daten wären Eigentum der Nutzer*innen. Des Weiteren sollte das Design der Plattformen nicht auf eine maximale Onlinezeit abzielen. So könnte man eine problematische Nutzung von Social Media im Sinne einer Sucht vermeiden.
Eine starke Regulation. Dann könnte man soziale Netzwerke ja direkt dem Staat übergeben.
Ich bin zumindest dafür, darüber nachzudenken, ob soziale Medien nicht eigentlich ein öffentliches Gut darstellen. Das Ganze könnte zum Beispiel über einen Rundfunkbeitrag finanziert werden. Trotzdem verstehe ich die Bedenken, die manche haben, ein Werkzeug wie die sozialen Netzwerke in Staatshände zu geben. Vielleicht gibt es auch eine Lösung zwischen den Extremen. In jedem Fall brauchen wir soziale Netzwerke, die nicht nach Gewinn streben und dies vor allem nicht mit dem Datengeschäftsmodell tun.
Wieso haben die Konzerne kein Interesse an einem Bezahlmodell?
Das naheliegendste Argument dagegen ist, dass sie weniger verdienen würden. Das Potenzial der gesammelten Daten ist unermesslich. Wer weiss schon, was man in Zukunft daran verdienen kann? Die Shareholder von Meta investieren in die Zukunft. Meta zielt nicht auf eine Konstanz der Einnahmen ab, sondern auf die grossen Möglichkeiten von morgen. Wie sehr man den Konzernen freie Hand lässt, entscheiden wir jedoch schon heute.