Handy am Steuer war noch nicht verpönt: Das erste «Nationale Autotelefon» erschien 1978 und wog 15 Kilogramm. Schweizerisches Sozialarchiv

«Freuden und Leiden des Natelalltags»

Anfangs war es ein Luxussymbol. Heute ist es das Letzte, was wir alle anschauen, bevor wir schlafen gehen. Die Geschichte des Handys.

6. März 2023

«In wenigen Jahren sollen die meisten von uns Taschentelefone mit sich tragen», prognostizierte das Schweizer Fernsehen 1990 die Mobilkommunikation. «Jeder Mann, jede Frau hat eine ganz persönliche Telefonnummer. Sie ist vergleichbar mit der AHV-Nummer und gilt während des ganzen Lebens. Was wird diese totale Kommunikation für unser Leben bedeuten?» Nachfolgend wird eine arrangierte Szene in einem Zürcher Restaurant kommentiert: «Ein Esslokal voll telefonierender Mitmenschen. Am Mittagstisch die gestresste Fortsetzung der Morgengeschäfte. Für das persönliche Gespräch unter Kollegen bleibt kaum Zeit.» Was damals noch Fiktion war, ist heute normal. Ob im Tram, an der Uni oder zuhause im Bett: Smartphones sind im Alltag omnipräsent. Doch damit es so weit kommen konnte, musste einiges passieren.

In der Schweiz begann alles 1978: Die Swisscom-Vorgängerin Post-, Telefon und Telegrafenbetriebe (PTT) präsentierte damals das erste «Nationale Autotelefon» kurz Natel. Die Abkürzung, mit der ursprünglich die Mobilfunk-Angebote vermarktet wurden, setzte sich in der ganzen Schweiz als Bezeichnung für Mobiltelefone durch. Im April 1978 wurde das erste von fünf Teilnetzen für den Grossbereich Zürich in Betrieb genommen und bis 1980 zum ersten gesamtschweizerischen Mobiltelefonsystem ausgebaut. Das damalige Natel wog stolze 15 Kilogramm und war entweder direkt im Kofferraum des Autos eingebaut oder befand sich als tragbare Variante in einem Koffer.

Hinzu kamen der hohe Kaufpreis von circa 9000 Franken, was heutigen 20'000 Franken entspricht, und die begrenzte Gesprächszeit von nur drei Minuten, welche die Autotelefone schnell zu einem Prestigeobjekt und Statussymbol werden liessen. Man spottete über Autofahrer*innen, die sich eine Telefonattrappe im Auto installiert hatten, nur um zu imponieren und kritisierte diejenigen, die ein Autotelefon beruflich gar nicht dringend nötig hatten.

Aus mangelnder Kapazität und Überlastung musste das Natel-Netz stetig erweitert werden. Mit dem Ausbau des Natel-C-Netzes 1986 wuchs aber auch die Kritik am neuen Medium: «Ich befürworte die moderne Technologie, aber nicht um jeden Preis. Das Natel C ist ein Spielzeug, es entspricht nicht einem wirklichen Bedürfnis», äusserte Hans Weiss vom Schweizerischen Landschaftsschutz und kritisierte den Antennenbau. Hinzu kamen Ängste vor der Strahlung: «Handys haben ein grosses Handycap: Sie strahlen. Wissenschaftler befürchten Gesundheitsrisiken für die Handybenutzer», berichtete der Kassensturz 1997.

«Mobiltelefonie ist eine Komfortsache»

Nichtsdestotrotz nahm die Zahl der Abos zu. Von 52'000 Nutzer*innen 1989 auf 500'000 im Jahr 1996. Denn das digitale Natel D, das 1993 eingeführt wurde, ermöglichte tiefere Preise, sodass sich die mobilen Telefone im Alltag noch schneller durchsetzten. Und 1990 wurde das Natel auch definitiv tragbar und immer kleiner. Während die anfängliche Werbung der PTT noch auf Geschäftsleute und Führungskräfte abzielte, wurden nun Freizeitsportler*innen, Hobbygärtner*innen und «alle, denen Mobilität, Freiheit und Sicherheit viel Wert sind» angesprochen.

Als das Mobiltelefon auf den Markt kam, war eine Anschaffung im eigenen Umfeld legitimierungsbedürftig. Der soziale Druck, über ein Gerät allerorts erreichbar sein zu müssen, führte aber zu einer immer stärkeren Verbreitung des Handys. Es wurde in den Alltag integriert und eroberte den öffentlichen Raum. Weil viele sich etwa über die öffentlich geführten Gespräche über «Banalitäten» empörten, wurden bereits erste Handy-Knigges in Zeitungen veröffentlicht. So empfahl zum Beispiel die PTT-Zeitschrift unter dem Titel «Freuden und Leiden des Natelalltags» ihren Kund*innen bestimmte Umgangsformen.

Entgegen dem sonst üblichen Optimismus in der Technologiebranche prognostizierte die PTT im Jahr 1985, dass um die Jahrtausendwende lediglich 235’000 Mobiltelefone in Gebrauch sein würden. «Mobiltelefonie ist prinzipiell nicht so wichtig – ist eine Komfortsache», so eine Meinung aus einer Expertenbefragung der PTT. Um das Jahr 2000 waren schliesslich mehr als viereinhalb Millionen Handys im Umlauf. Das zu Beginn unvorstellbare mobile Telefonieren wurde allgegenwärtig. «Mein Handy und ich, wir zwei sind unzertrennlich.  Selbst im Büro und auch auf dem Klo, ich lass es nie zuhaus, ohne Handy gehe ich niemals aus», lautet der Text eines Liedes von damals.

Seit 1995 konnten auch SMS verschickt werden: Geschriebenes wurde damit unabhängig von Zeit und Raum. Neue Kommunikationsmedien und Kommunikationstechniken veränderten seit der Erfindung der Dampflokomotive räumliche Bezüge weiter. Wahrnehmung und Konzeption von An- und Abwesenheit, Hier und Dort, Nähe und Ferne vermischen sich zunehmend.

So bezeichnete das Handy eine erneute Überwindung des Raums. Das Mobiltelefon hat jedoch auch die Natur des «Zwischenraums» verändert: Mit dem Handy lässt sich Zeit überbrücken und das Warten wird angenehmer. Doch gleichzeitig ist es mitverantwortlich dafür, dass Treffen in letzter Minute abgesagt und Verspätungen angekündigt werden können. Später wurde das Handy auch als «Zeitfresser» bezeichnet.

«We’ve designed something wonderful for your hand» – so präsentierte Steve Jobs 2007 das iPhone 2G. Tatsächlich wurde das Handy noch handlicher, was zu seiner massenhaften Verbreitung beitrug.

Nicht vergleichbar mit dem Walkman

Der technologische Wandel wird seit jeher sowohl von euphorischen als auch von pessimistischen Sichtweisen begleitet. Aussagen wie «Man hatte schon damals Angst davor, dass die Geschwindigkeit der Eisenbahn schädlich ist für den Menschen» fallen immer wieder. Sie sind auch nicht gänzlich falsch, doch lassen sie beträchtliche Unterschiede zwischen den jeweiligen Medien und insbesondere den Ausmass an gesellschaftlichen Folgen des Mobiltelefons ausser acht. Und ohne Kulturpessimismus kann festgehalten werden: Das Smartphone ist nicht nur ein Kommunikationsmedium, sondern ein Multiunterhaltungs- und Informationsgerät. Durch das Handy überlagern sich früher zeitlich oder räumlich getrennte Aktivitäten. «Mit dem Walkman hörte man damals auch schon zwischendurch Musik und schottete sich vom sozialen Umfeld ab.» Doch das Smartphone entzieht uns heute nicht nur unsere Aufmerksamkeit. Es ist auch wichtig geworden, mithilfe des Handys Aufmerksamkeit zu erhalten.

Folgen für die Gesellschaft zu kurz gedacht

Das Handy verkörpert die Idee eines Mobil-Seins in allen erdenklichen Situationen. Wir projizieren unsere Gefühle und Erinnerungen hinein. Betrachtet man die Geschichte von tragbaren Medien, so wurden sie zunehmend individuell, personalisiert und cyborgartig. Im Unterschied zu Fernsehen und Walkman ist der Besitz eines Smartphones aufgrund seiner Vernetzungsfunktion fast schon zu einer sozialen Norm geworden.

Es scheint also, als würden immer mehr Menschen in die Abhängigkeit von Maschinen geraten und der Digitalisierung hilflos zusehen. Doch solcher Technikdeterminismus scheint zu kurz gegriffen. Wie eine neue Technik angenommen wird, ist nicht nur von technikinternen Faktoren bestimmt, sondern auch durch deren Nutzung und Wertzuschreibungen in der Gesellschaft. Darüber hinaus entstehen technische Innovationen erst, nachdem sie durch kulturelle Visionen und Wünsche angeregt wurden.

Umgekehrt entstehen durch die Technik aber auch neue Nutzungsmöglichkeiten. Der Lauf der technischen Dinge ist folglich als Aushandlungsprozess zu verstehen. Das Handy ist sowohl ein technisches als auch ein kulturelles Objekt. Vergleiche mit vergangenen technischen Errungenschaften und deren Folgen für die Gesellschaft sind oft zu kurz gedacht. Die Wirkung des Smartphones wird damit verharmlost und der Gesellschaft wird die Verantwortung darüber abgesprochen.

Das Schweizer Fernsehen warnte schon 1990: «Der Traum von der totalen Kommunikation pervertiert zum Albtraum. Fazit: Wir müssen lernen, die totale Kommunikation zu beherrschen. Andernfalls wird sie in Zukunft uns beherrschen». Und Flemming Örneholm, Zuständiger für die Mobiltelefone bei Ericsson meinte: «Das Gerät hat auch einen Knopf, mit dem man es ausschalten kann. Das gehört auch zur Freiheit».