Durch fremde Strassen driften

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Linn Stählin (Text und Bild)
6. März 2023

Hunderte von grünen Flaggen verdecken meine Google-Maps-Karte. Ich habe Listen für Museen, Cafés und Märkte; Listen meiner Lieblingsorte und diejenigen anderer. Gelbe Sterne setze ich da, wo es besonders schön ist. Das Tram kommt alle sieben Minuten. Um sieben schliesst der Coop, die Migros um acht. Ich bewege mich mit erstaunlicher Effizienz durch die Stadt, steige am richtigen Ort ins Tram, um den Weg zu optimieren. Am Schaffhauserplatz immer hinten, im Bus lieber vorne; die Stadt wird zum funktionellen Schauplatz meines Alltags. Ich habe meine Stamm-Trams (3, 6, 8, 15), mein Lieblings-Tram (5) und dann gibt es das Tram, dessen Existenz ich manchmal verleugne (12).

Ein «experimentelles Driften durch die Strassen», so beschreibt der Autor und Philosoph Guy Debord seinen selbst geprägten Begriff «dérive». Jenseits des gewinnorientierten, vorhersehbaren Alltags soll die Stadt subjektiver, als Abfolge von Situationen wahrgenommen werden. So ziehe ich also los, nehme Strasse um Strasse, Tram nach Tram. Die Stadt verschwimmt, die Zahlen auch, die Zeit sowieso. Im Kopf versuche ich mir zu merken, wie ich hierher gekommen bin, gebe aber bald auf. So finde ich mich in einer Situation wieder, in der ich noch nie war, neben einem Spar, den ich nicht kenne. Der Abend zeigt mir sein schönstes Licht. Irgendwo in mir, auf einer verzogenen Karte, setze ich einen gelben Stern.