Das tragische Schicksal von Joseph Schmidt
Kulturreportage — Der jüdische Tenor starb 1942 wegen mangelnder Hilfeleistung in Zürich
Stille umgibt die Anlage des israelitischen Friedhofs in Wiedikon. Sie wird allein vom Knirschen der Kiesel unter meinen Schuhen unterbrochen, als ich mir den Weg zur Grabstätte bahne. «Ein Stern fällt…», steht in den schmalen Stein gemeisselt. Darunter in grossen Lettern der Name eines Mannes, der noch immer zahlreiche Menschen mit seinem Gesang verzaubert, und dessen Schicksal nachdenklich stimmt: «Joseph Schmidt». Sein Grab ist eines von vielen unter den jüdischen Personen, die während des Zweiten Weltkrieges dem Nationalsozialimus zum Opfer fielen.
Im Oktober 1942 wiegt sich der jüdische Sänger aus Berlin in der Schweiz in Sicherheit vor den Nazis. Stattdessen stirbt Joseph Schmidt, einer der glorreichsten Tenöre seiner Zeit, am 16. November 1942 mit 38 Jahren als Flüchtling und Lagerinsasse in Girenbad im Kanton Zürich.
Der singende Joshi
In einem kleinen Dorf bei Bukowina, das 1904 noch Österreich-Ungarn angehört, wächst Joseph Schmidt als jüngster Sohn in einem jüdischen Elternhaus auf. Schon in frühen Schulzeiten gilt er als auffallend musikalisch und ist im Alter von zehn Jahren bei der Dorfgemeinschaft längst als «der singende Joshi» bekannt. Sein erstes eigenes Konzert gibt Schmidt als Zwanzigjähriger im November 1924 in Czernowitz. Zum abendfüllenden Repertoire gehören anspruchsvolle Opernarien und Kunstlieder.
Um jüdischen Glauben und Musikalität unter einen Hut zu bringen, lässt sich Schmidt noch im selben Jahr als Kantor für die Synagoge in Czernowitz einstellen. Der Zenit seiner Karriere scheint damit erreicht. Doch bald melden sich erste kritische Stimmen, die vor allem beklagen, dass Schmidt seinen Gesang auch weltlicher Musik widme. Die Möglichkeiten für eine internationale Sängerkarriere sind für Schmidt in einer Kleinstadt wie Czernowitz ausgeschöpft. Unter seinen Förder*innen ist man sich einig: Schmidt muss in einer Weltstadt singen. Und Berlin, so scheint es, sei bei diesem Vorhaben unumgänglich.
Ich rücke meine Kopfhörer zurecht und entferne mich gemächlich von der Grabstätte: «Ein Lied geht um die Welt, ein Lied, das euch gefällt. Die Melodie erreicht die Sterne, jeder von uns singt sie so gerne.» Triumphierender Gesang schallt in meinen Ohren. Warme Sonnenstrahlen kitzeln mir ein Lächeln ins Gesicht, meine Schritte schwingen, der Gang ist leicht. Nur im Hintergrund bemerke ich einige Autos auf der Hauptstrasse, die an mir vorbeirauschen.
Alfred Fassbind ist selbst Tenor und leitet das Joseph-Schmidt-Archiv im Zürcher Oberland in Dörnten. In unserem Gespräch sagt er: «Man weiss beim zweiten Ton: ‹Das kann nur Joseph Schmidt sein!› Die Farbe der Stimme ist so unverwechselbar.» Mein Blick fällt auf eine alte Schwarzweissfotografie. «Er war doch recht klein, nein?» Fassbind lacht :«Was das Optische betrifft, ist er mit einer Grösse von einem Meter vierundfünfzig durchaus auch etwas Besonderes.»
Kleiner Mann mit grosser Stimme
Nach Abschluss seiner Gesangsausbildung 1926 in Berlin will sich Schmidt auf den bedeutenden Opernbühnen der deutschen Hauptstadt behaupten. Seine Körpergrösse wird dabei zum Hindernis. So schildert Schmidt in einem Brief seine Begegnung mit dem Dirigenten Leo Blech, der ihn nach einem Vorsingen zur Seite nimmt. «Wenn Sie nur klein wären, ginge es ja. Aber Sie sind einfach zu klein!» Grössere Rollen auf den Opernbühnen bleiben Schmidt wegen seiner Körpergrösse bis zum Ende seiner Karriere meistens verwehrt. Umso erfolgreicher fiel dafür 1929 sein Radiodebüt im Berliner Rundfunk als Vasco da Gama in Gicaomo Meyerbeers Oper «Afrikanerin» aus. Cornelius Bronsgeest, Leiter der damaligen Opernabteilung, erinnert sich in einer persönlichen Schrift an seine Begegnungen mit Schmidt: Er habe «die eminente Musikalität, die die Melodiephrasen zu einem ausdrucksvollen Glanz zusammenfügen vermochte, die weiche Lyrik und den durchschlagenden dramatischen Ausdruck.»
Der Rundfunk wird zu Schmidts Erfolgsmedium und der Klang seiner Stimme ist in den Jahren von 1929 bis 1933 aus den Radios nicht wegzudenken. Im Laufe seiner Karriere singt er in 33 Rundfunkopern.
Neue Zeiten brechen an
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 kippt die Stimmung in Berlin schlagartig. Noch im Mai desselben Jahres erscheint der Film «Ein Lied geht um die Welt» des Regisseurs Richard Oswald, in dem Schmidt nicht nur die Hauptrolle spielt, sondern auch singt. Zwar ist der Film beim Publikum ein grossartiger Erfolg, doch die Kritiken der Presse werden immer linientreuer.
So herrscht im «Völkischen Beobachter», dem publizistischen Sprachrohr der NSDAP, bereits der antisemitische Wortlaut der Partei: «Ein Sängerfilm, der in seiner Weise viele bessere Vorläufer hat. […] Und was man nicht sagt, aber desto deutlicher sieht: Er ist ein Jude […]. Das Lied, das heute durch Deutschland klingt, hat einen anderen Rhythmus, hat schärferen Marschtritt, hat aufpeitschendere Melodie, kommt aus ehrlicherem Herzen als das, was wir im Film hörten.» Der Zugang zum Funkhaus wird Schmidt verwehrt und seine abgeschlossenen Verträge für nichtig erklärt. Und noch im selben Jahr verlässt Schmidt Deutschland. Bis 1940 konzertiert Schmidt in zahlreichen Ländern und Städten. Doch die Lage wird für ihn als Jude in Europa immer gefährlicher. Seine geplante Überfahrt nach Kuba wird im November 1941 wegen der Kriegserklärung Deutschlands und Italiens an die Vereinigten Staaten abgesagt.
Der Atlantik wird zum neuen Kriegsschauplatz. Folglich erscheint die Schweiz Schmidt als einzig sicherer Ort in Europa. «Er hat während seiner Karriere drei Tourneen durch die Schweiz gemacht und war der Meinung, dass man ihn mit offenen Armen empfängt», sagt Fassbind.
«Man hält mich wohl für einen Simulanten»
Erst bei seinem dritten Versuch gelingt es Schmidt am 7. Oktober 1942, die Grenze zu Fuss und illegal von Südfrankreich aus in die Schweiz zu überqueren. Eine Woche später folgt seine Internierung in das Lager Girenbad, wo jüdische Personen, die ihrer Deportation in Deutschland entfliehen wollen, auf einen Asylentscheid warten, da sie während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz gesetzlich nicht als Flüchtlinge anerkannt sind.
In einem Antwortschreiben des «Comité International des Intellectuels Réfugiés» mit Sitz in Bern vom 22. Oktober 1942 äussert man sich diesbezüglich: «Aus grundsätzlichen Erwägungen können wir den in der Schweiz aufgenommenen Flüchtlingen weder gestatten, Erwerbstätigkeiten auszuüben oder sonstwie in der Öffentlichkeit aufzutreten. Wenn wir bei Joseph Schmidt eine Ausnahme machen würden, würde das, weil er in den Flüchtlingskreisen sehr bekannt ist, weitergehende Begehren hervorrufen.»
Schmidt wird Ende Oktober vom Lager ins Kantonsspital Zürich überwiesen. Er klagt über starke Schmerzen im Hals und in der Herzgegend. Nur erstere werden behandelt. «Man hält mich wohl für einen Simulanten», kommentiert der von den Schwierigkeiten seiner Flucht geschwächte Schmidt dies später in einem Brief. Fassbind ergänzt: «Die Antwort des Arztes war: ‹Seien Sie froh hier zu sein. In ihrer Heimat müssten Sie jetzt Gruben graben.›» Schmidt wird frühzeitig aus dem Spital entlassen. Zwei Tage nach der Entlassung stirbt er am 16. November 1942 in einer Gaststube des Restaurants Waldegg in Girenbad an Herzversagen. Einen Tag später trifft seine Arbeitserlaubnis ein.
Ich folge den Anweisungen meines Handys zu jenem Gebäude. Eine Frau drängt sich an mir vorbei, eine Autotür fällt ins Schloss. Nichts in Girenbad deutet auf Joseph Schmidt hin, bis auf eine kleine Gedenktafel, die an der grauen Hausfassade des ehemaligen Restaurants angebracht ist. Meine Augen gleiten mehrmals über die wenigen Zeilen. «In diesem Haus starb einer der berühmtesten und beglückendsten Sänger der Welt Joseph Schmidt als Flüchtling und unschuldiges Opfer einer gnadenlosen Zeit.»
Ich laufe die Strasse hinab und rücke meine Kopfhörer zurecht. Diesmal spielt ein ganzes Orchester für mich und eine vertraute Stimme erklingt: «Flieht auch die Zeit, das Lied bleibt in Ewigkeit.»