Im neuen Buch erklärt Anna Miller, «wie du in digitalen Zeiten wieder Platz schaffst für Dinge, die dir wirklich wichtig sind». Peter Hauser

«Der öffentliche Raum ist stiller geworden»

Die Journalistin Anna Miller findet, wir sollten als Gesellschaft aufwachen und uns überlegen, was wir mit unserer Zeit anfangen wollen – anstatt immer am Handy zu sein. In ihrem Buch über digitale Achtsamkeit preist sie Lösungen an.

21. Februar 2023

Sie befinden sich seit sieben Monaten auf einer Weltreise, momentan sind Sie gerade in Bangkok. Wie gehen die Leute dort mit ihrem Smartphone um?  

Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, dass digitale Achtsamkeit hier noch gar kein Thema ist. Vorgestern musste sich hier im Hostel eine Person übergeben, gleichzeitig war sie am Handy. Das war ein Moment, bei dem ich dachte: spinne ich oder spinnt die Welt? 

Beim Reisen ist ein Smartphone sehr nützlich. Sind Sie derzeit oft am Handy? 

Ja, ich brauche es für den kreativen Bereich, zum Beispiel zum Fotografieren. Aber schon auch für Mails und Social Media. Um einige andere digitale Anwendungen bin ich ebenfalls sehr froh, beispielsweise um das App Grab. Das funktioniert ähnlich wie Uber und ist für mich als alleinreisende Frau sehr praktisch. Das ist auch eines der Probleme am Ganzen: Fluch und Segen stecken im selben Gerät. 

Wie kamen Sie dazu, Ihren Ratgeber zu schreiben? 

Das Thema beschäftigt mich schon seit langem. Ausschlaggebend war, dass ich plötzlich neue Verhaltensmuster bei mir entdeckte: Social Media wurde für meinen emotionalen Regulationsprozess extrem wichtig. Wenn zum Beispiel ein Artikel von mir erschien, konnte ich die darauffolgenden zwei Tage nicht mehr richtig arbeiten, weil ich alle fünf Minuten nachschaute, wer den Post davon geliked hatte. Dazu dachte ich ständig über die Verwertbarkeit von Momenten für Social Media nach. Eine andere Realisation, unter der ich heute noch leide: Ich habe gemerkt, wie der öffentliche Raum stiller geworden ist. Die Schwelle, um mit fremden Menschen in Kontakt zu treten, ist höher.  

Dafür sind wir aber digital miteinander verbunden. «Verbunden» heisst auch Ihr Buch. Weshalb dieser Titel? 

Die Digitalisierung hat uns die grosse Verbundenheit versprochen und wir haben uns bereitwillig darauf eingelassen. Das Problem ist, dass wir durch das Digitale nun so absorbiert sind, dass die Verbundenheit im realen Raum und auch zu uns selbst darunter leidet. Aus einem Leben mit Internetzeit ist ein Internetleben geworden. Wir müssen uns die grosse Frage stellen: Wie will ich wirklich leben? Wie will ich Menschen begegnen und was will ich aus meiner Zeit auf dieser Welt machen? Und wie kann ich die Digitalisierung so nutzen, dass sie mir auf diesem Weg hilft?

«Wir sind wie Jugendliche, die 14 Jahre lang machen konnten, was sie wollen. Und jetzt merken wir, dass wir eine Verhaltensstörung haben.»

Das Handy hat eine enorm starke Sogwirkung. Wie kann man widerstehen?  

Auf der individuellen Ebene ist das Persönlichkeitsarbeit. Man sollte bei sich selbst beobachten, wann und weshalb man unzufrieden mit dem eigenen Handykonsum ist. Und reflektieren, aus welchen Gründen man ans Handy geht. Bin ich am Wochenende einfach auf Instagram, weil ich sonst nicht weiss, was ich machen sollte? Oder bin ich in einem emotional überforderten Gespräch und möchte mich durch das Handy abgrenzen? Wir sind wie Jugendliche, die nun 14 Jahre lang machen konnten, was sie wollen. Und jetzt merken wir, dass wir eine Verhaltensstörung haben.

Sie plädieren auch für mehr physische Distanz zum Gerät. Was meinen Sie damit genau? 

Viele Leute wollen sich vom Handy entfernen, tragen es aber die ganze Zeit bei sich. Dann benutzt man es automatisch. Unser Nervensystem ist konstant überreizt. Vor allem, weil wir Inhalte konsumieren, die ständig unseren Puls verschnellern – zum Beispiel Youtube-Videos oder Tiktoks. Das sind in der Regel nicht Meditationsmusik und Kaminfeuer, sondern Inhalte, die wie ein Sturmgewehr auf unsere Gehirne einwirken. Es ist sehr wichtig für die Gesundheit, das Nervensystem wieder zu beruhigen. Das kann gelingen, wenn wir das Handy mal auf die Seite legen und uns dafür entscheiden, eine halbe Stunde in den Park spazieren zu gehen. Es muss also nicht direkt ein Offline-Monat sein. Auch kleine Schritte können helfen: Einen analogen Wecker kaufen und so das Handy aus dem Schlafzimmer verbannen, nur bis zu einer bestimmten Uhrzeit am Handy sein oder einige Anwendungen vom Handy löschen.

In Ihrem Buch empfehlen Sie zudem, den Fokus auf eigene Leidenschaften zu legen.

Man muss Dinge finden, die einem wichtiger sind als die digitalen Inhalte. War ich einen ganzen Tag mit Freunden wandern und fühle mich erfüllt, hänge ich automatisch weniger an den Geräten. Das funktioniert beim Verliebtsein ja auch so: Dann haben wir auch nur noch Augen für den Anderen. Findet also etwas, was auch wirklich interessiert, und verwendet mehr Zeit darauf. Seien das Freundschaften, ein Buch-Projekt oder Filzen. Das Credo ist also: Nicht weniger Bildschirmzeit, sondern mehr Zeit für anderes. Und übrigens denke ich, einige Influencer*innen pflegen am Ende einen gesünderen Umgang mit Social Media als einige von uns. Denn sie sehen ihre Zeit auf der Plattform als Arbeitszeit. 

Der Psychologe Larry Rosen sagt, wir seien in einer kollektiven Angststörung gefangen. Stimmen Sie dem zu?

Das würde ich so unterschreiben. Das Dopamin, das durch den Handykonsum ständig ausgeschüttet wird, führt dazu, dass wir schnell in ein Loch fallen. Die Psychiaterin Anna Lembke spricht ja vom Smartphone als einer modernen Injektionsnadel. Und sie muss es wissen: Sie leitet die Suchtklinik der Stanford University im Silicon Valley. 

So erscheint die Lage desolat. Wieso wird nichts unternommen? 

Ein Grund, weshalb sich nichts ändert, ist, weil der Konsum in unserer Gesellschaft extrem normalisiert ist. Wir nehmen ständig wahr, dass andere es genau gleich machen. Deswegen finde ich, dass es eine gesellschaftliche Debatte darüber braucht. Es ist schwierig, als Einzelperson dagegen anzukämpfen.

Was würde helfen?  

Ein erster Schritt könnte sein, die Umgebung besser zu gestalten. Im Veranstaltungshaus Kosmos gab es zum Beispiel digitalfreie Zonen. An anderen Tischen hat man dennoch mit dem Laptop arbeiten können. Es geht nicht darum, digitale Geräte komplett zu verbieten. 

Braucht es einen neuen Handy-Knigge? 

Absolut. Ich mache immer den Vergleich: Wenn man eine Gruppe verlässt, um auf die Toilette zu gehen, sagt man das jeweils kurz. Das ist doch selbstverständlich. Man kommuniziert es. Und das wäre bei der Handynutzung ein erster Schritt. Wenn man das Handy zum Beispiel auf den Tisch legt, soll man kurz erklären, weshalb. Ich nenne das «digital consent». Also digitales Aushandeln von Regeln, und das Abholen des Einverständnisses des Gegenübers.

Wie könnte aus dem Thema eine öffentliche Debatte entstehen? 

Wir müssen das kollektive Achselzucken überwinden. Die meisten denken noch immer, die Digitalisierung bestehe aus selbstfahrenden Autos, 5G und Online-Zahlungen. Doch sie bedeutet mehr, nämlich eine komplette Veränderung unseres Lebens. Es geht schon lange nicht mehr um die Frage, ob man dafür oder dagegen ist. Die Digitalisierung lässt sich nicht aufhalten. Deswegen ist es unsere Pflicht, uns zu fragen: Wie können wir den digitalen Raum menschlich gestalten?

Die grösste Verantwortung tragen doch die grossen Tech-Konzerne, indem sie Apps entwickeln, die uns süchtig machen. Wieso fokussieren Sie sich in Ihrem Buch auf das Individuum? 

Ich bin Journalistin und habe Psychologie studiert. Deswegen habe ich ein Buch darüber geschrieben, wie man als Privatperson einen besseren Umgang mit der digitalen Welt finden kann. Aber es braucht auch unbedingt Regulierungen. In Teilen Europas gibt es zum Beispiel bereits das «right to disconnect», eine Gesetzesgrundlage, die Arbeitnehmenden ermöglicht, sich ausserhalb ihrer Arbeitszeiten komplett digital abzukoppeln, ohne, dass sie negative Konsequenzen fürchten müssen. 

Studien zeigen, dass die Menschen weltweit immer länger am Handy sind. Wie sieht Ihre realistische Prognose für die nächsten paar Jahre aus? 

Mir hat eine Professorin kürzlich gesagt, dass für sie der Fall klar sei: Die Welt werde sich spalten. Es werde die geben, die im Metaverse versinken werden, und die anderen, die aussteigen werden. Ich selbst kann es nicht prognostizieren.

Wie sieht denn Ihre digitale Utopie aus? 

Wenn wir Menschen durch die Digitalisierung Zeit gewinnen können, dann sollten wir das tun. Aber wir sollten es auf eine Art und Weise machen, bei der die Gesundheit des Menschen im Zentrum steht. Die Digitalisierung sollte die Menschen nicht noch einsamer machen, sondern dabei helfen, dass wir wieder mehr Zeit und Ressourcen für uns selbst und unsere Lebensgestaltung haben.

Was erhoffen Sie sich aus Ihrer Publikation?  

Ich wünsche mir, dass das Buch Menschen in ihrem Empfinden stärkt. Und ihnen Werkzeuge an die Hand gibt, um digital achtsam zu werden. Und es sollte sie daran erinnern, dass wir die freie Wahl haben – wir sind nicht einfach in einer kollektiven Ohnmacht gefangen. Wir müssen aus dem Zustand der Sedierung und der ständigen Ablenkung aufwachen. Dabei soll das Buch helfen.

Person & Buch

Anna Miller, geboren 1987, ist Journalistin, Autorin und Expertin für digitale Achtsamkeit. Sie hat einen Master-Abschluss in Positiver Psychologie und schreibt regelmässig über Gesellschaftsthemen – unter anderem für das SZ Magazin und die Republik. Ihr Ratgeber «Verbunden» erscheint am 23.02.2023 im Ullstein Verlag und kostet als Taschenbuch ca. 20 Franken.