Neues Bildungssystem gefordert: Klimaaktivist*innen besetzen Kantonsschule Enge
Die Schüler*innen verlangen Klimalektionen, mehr psychologische Unterstützung und weniger Präsenzpflicht – und laden Silvia Steiner zu einem Gespräch ein.
Wer gestern den Gymi-Unterricht schwänzte, verbrachte den Tag wahrscheinlich trotzdem in der Schule: Mehrere Dutzend Schüler*innen haben am Dienstag Räume der Kantonsschule Enge besetzt, um für ein sozialeres Bildungssystem und eine nachhaltige Klimapolitik zu protestieren. Organisiert wurde die Besetzung vom klimaaktivistischen Bündnis «Erde brennt Zürich», das sich an die internationale Bewegung «End fossil: Occupy!» angliedert. Unter dessen Banner hatten Aktivist*innen bereits am Freitag das Basler Gymnasium Münsterplatz besetzt. Dass eine ähnliche Aktion in Zürich bevorstand, hatten sie vorgängig angekündigt – den Ort hielten sie jedoch geheim.
So ist es auch für die Schüler*innenschaft der Kantonsschule Enge eine Überraschung, als sie um halb Acht in die Schule schlurfen und von Transparenten in der Eingangshalle begrüsst werden: «Willkommen an der Schulbesetzung», steht auf einem, «Erde brennt, Schule pennt» auf einem anderen. Eine Gruppe von Mädchen debattiert, ob sie sich durch eine Teilnahme am Alternativprogramm unentschuldigte Absenzen einhandeln würden. Sie drängen sich trotzdem in den «grossen Saal», wo ein Besetzerinnen-Duo das Programm erklärt: Zahlreiche Workshops, ein Plenum und ein Konzert. Zwei Lehrer in der ersten Reihe geniessen derweil seelenruhig ihren Kaffee.
Rektor kritisiert mangelnde Dialogbereitschaft
Auch Rektor und ehemaliger SP-Kantonsrat Moritz Spillmann wirkt gelassen, als er in der Eingangshalle die Fragen der Journalist*innen beantwortet. «Wir haben die Posts auf dem Instagram-Kanal der Organisator*innen verfolgt und geahnt, dass wir als Schule betroffen sein werden.» Entsprechend habe man vorausgeplant und freie Räume bereitgestellt, damit der Schulunterricht ordentlich stattfinden könne.
Die Aktivist*innen fordern zahlreiche Veränderungen im Schulsystem: mehr Unterricht zu sozialen und ökologischen Herausforderungen, gratis Bildung für alle, einen Ausbau der psychologischen Betreuung an Schulen und weniger Präsenzunterricht. Laut Julia Fischer und Cyrill Hermann, beides Schüler*innen der Kantonsschule Enge und Mitorganisator*innen der Besetzung, gehen die Forderungen aber über den Schulkontext hinaus: «Auf kantonaler Ebene fordern wir ein ökologisches und sozial gerechtes Bildungssystem, auf nationaler eine verantwortbare Klimapolitik, die uns eine Zukunft schafft, und auf internationaler mehr Solidarität mit allen, die von der Klimakrise betroffen sind.»
Spillmann kann die Wünsche der Schüler*innen nachvollziehen: «Das sind Themen, die im Moment an allen Schulen brennen.» Schade findet er, dass man zwar Besetzungen organisiere, vorgängig aber nicht das Gespräch mit den jeweiligen Schulleitungen suche, um die Zustände in den Schulen zu verbessern.
Silvia Steiner und Schüler*innen stellen sich gegenseitig Bedingungen
Mit der Besetzung wolle man allerdings nicht einzelne Lehrerpersonen oder Schulleitungen kritisieren, so Hermann. Ziel der Kritik sei primär Bildungsdirektorin Silvia Steiner, die in den letzten Jahren «massiv versagt» habe. In einem offenen Brief an Steiner haben die Aktivist*innen ihre Forderungen ausgeführt. Online wurde der Brief von bereits 275 Menschen unterschrieben.
Die Besetzer*innen haben Steiner für ein Gespräch heute Mittwoch in die Schule eingeladen. Auf Anfrage schreibt die Medienstelle der Bildungsdirektion, Steiner sei zu einem Austausch bereit – allerdings zu einem späteren Zeitpunkt und nur mit Delegiert*en der Besetzer*innen. Diese bestehen jedoch darauf, dass das Treffen für alle Schüler*innen und Medien offen sei.
Spillmann teilt Hermanns Kritik an der Bildungsdirektion nicht ganz: «Die Politik ist grundsätzlich wohlwollend gegenüber den Mittelschulen. Ich halte diese pauschale Aburteilung der Bildungspolitik nicht für gerechtfertigt.» Es gebe aber sicher Dinge, an denen man arbeiten müsse. So müssten etwa Lehrpläne überarbeitet und Strukturen der Leistungsbeurteilung angepasst werden. «Die Schulen haben einiges an Freiraum, was das betrifft», so Spillmann.
Für Steiner kommt die heftige Kritik der Aktivist*innen so kurz vor den Regierungsratswahlen am 12. Februar denkbar ungünstig. Zudem wurde ihr von Studierenden und Jungparteien bereits vor zwei Wochen ein offener Brief mit einer Forderungen aufgrund des kantonalen Stipendiendebakels überreicht – die ZS berichtete.
Weitere Besetzungen sollen folgen
In die besetzten Räume zwängen sich derweil auch auswärtige Schüler*innen. Bis zum späten Nachmittag gibt es für sie ein dichtes Programm: In einem «Schulkritik-Workshop» sammeln die Teilnehmenden auf Plakaten alles, was sie am gegenwärtigen Schulsystem zu bemängeln haben. Darunter finden sich Stichworte wie «zu wenig Mitsprache», «zu hoher Leistungsdruck» oder auch: «viel zu wenig Verständnis für Menschlichkeit». Um neun Uhr Morgens unterhält sich die Autorin und Aktivistin Anna Rosenwasser mit einem vollen Saal über Queerfeminismus und um halb elf geht es angeführt von Juso-Präsident Nicolas Siegrist und dem grünen Gemeinderat Dominik Waser um die Frage, wo parlamentarische Politik beim Klimaschutz an ihre Grenzen stösst.
Die Aktivist*innen sehen das Potenzial von Besetzungen noch nicht erschöpft: «Vor allem bei Hochschulen ist noch vieles zu machen», sagt Hermann. Er selbst ist sich nicht sicher, ob er nach seinem Schulabschluss nächstes Jahr überhaupt noch studieren möchte: «In 6 Jahren, wenn ich mein Studium beendet hätte, sind wahrscheinlich die meisten ‹points of no return› erreicht.» Lieber möchte er sich nach der Schule weiterhin dem Aktivismus widmen.
Für die Enge-Besetzung ist dann am Dienstagabend Schluss. Eigentlich wollten die Aktivist*innen bis Mittwochabend bleiben. Unter Androhungen von Konsequenzen seitens der Schulleitung entschieden sie sich aber, das Programm um 21 Uhr zu beenden.