Ein Gipfel für das zerrissene Publikum
Das Schauspielhaus Zürich sorgt zurzeit für viele Diskussionen. Am 18. Januar widmete es sich ganz den Sorgen der Zuschauer*innen.
Sie sind angetreten mit dem Satz: «Wir wollen, dass das Schauspielhaus Stadtgespräch wird.» Das ist ihnen gelungen. Die Co-Intendanten des Schauspielhauses Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg sind seit vergangenem Herbst einer Welle von Kritik ausgesetzt. Verschiedene Tageszeitungen, allen voran die NZZ, ereifern sich über die derzeitige Theaterproduktion am Schauspielhaus. Sie stossen sich an einer übermässigen «Wokeness» und an der grossen Experimentierfreude des jetzigen Teams. Auslöser der teilweise hämischen Kritik war eine Zahl, verkündet von der NZZ: Nur 72 Prozent der Abonnements wurden in der bisherigen Spielzeit der neuen Intendanz verlängert. In früheren Jahren lag die Quote bei 95 Prozent.
Der Hunger nach dem Kanon
Am «Publikumsgipfel», der am Mittwochabend im Pfauen stattfand, suchte das Haus nun den Kontakt zur breiten Masse. Zu etwa drei Vierteln füllte sich der Saal, der Einlass war gratis und das Publikum divers: Von jungen Theaterinteressierten bis zu steinalten Abonnementsbesitzer*innen war alles vertreten. Auftakt zu Fragen und Kritiken des Publikums sollten jeweils kleine Podiumsdiskussionen unter Angehörigen des Schauspielhauses sein. Dabei ermöglichte das Programm «Slido» die digitale Übertragung der Zuschauer*innenkommentare. Durch den Abend führte Tobi Müller, Journalist und Theaterkritiker.
Als erstes betraten die Dramaturgin Katinka Deecke und der Co-Intendant Nicolas Stemann die Bühne. Stemann sprach schon bald Klartext: «Mich erstaunt das Auseinanderklaffen der Rückmeldungen», begann er. Während auf der Bühne oft sehr warme Reaktionen vom Publikum zu spüren seien, verrissen Tageszeitungen das Programm. Der Zuschauerschwund, zum Grossteil der Corona-Pandemie geschuldet, werde in seinen Augen politisch instrumentalisiert. Nicht selten sei der Unterton dabei gehässig, so Stemann. Er wünsche sich, dass mehr über Kunst statt über Politik gesprochen werde.
Letzteres nahm sich ein Herr im Publikum zu Herzen. Er stand auf und deklamierte: «Das ältere Publikum hungert! Nach Originalen! Bringen sie uns den Sophokles im Original!» Seine Rede wurde mit Applaus begrüsst. Dass das Schauspielhaus den klassischen Kanon verunstalte, ist ein zentraler Vorwurf in der medialen Debatte. Stemann antwortete dem Herrn gelassen und differenziert. Zwischen dem Kanon und dem zeitgenössischen Theater bestehe immer eine Spannung, meinte er. Zudem gebe es nicht das eine Original. Schon zu Zeiten Goethes seien alte Texte umgeschrieben worden. Es sei die Aufgabe des Theaters, den gegebenen Kanon mit Bezug auf die Gegenwart zu beleben.
Diversität heisst nicht Einseitigkeit
Im zweiten Podium betrat Yuvviki Dioh, Agentin für Diversität, die Bühne. Begleitet wurde sie von dem Co-Intendanten Benjamin von Blomberg und dem Schauspieler Michael Neuenschwander. Dioh erfüllt im Schauspielhaus eine neuartige Funktion: Sie unterstützt das Schauspielteam bei Fragen rund um Rassismus und Queerfeindlichkeit. Zum Beispiel, wenn rassistische oder queerfeindliche Szenen in Theaterstücken gespielt werden müssen. Ihre Unterstützung war etwa beim Stück «Bullestress» gefragt, in dem von Rassismus betroffene Schauspier*innen zwanzig Abende hintereinander rassistische Szenen vortragen mussten.
Für Konservative dürfte Dioh das Symbol der «Wokeness» sein. Unter diesem Kampfbegriff liefen viele Kritiken des vergangenen Herbstes. Kritiker*innen echauffierten sich über die Wichtigkeit von Diversitätsfragen am Schauspielhaus. Auf konfuse Art und Weise wurde auch der Rückgang der Abonnements mit Wokeness verknüpft. FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeouis zum Beispiel meinte gegenüber der NZZ: «Der woke Einheitsbrei vergrault die Zuschauer.»
Yuvviki Dioh wirkte am gestrigen Abend cool. Im Publikum erhob sich keine einzige Stimme, die die Wichtigkeit von Diversität in Frage stellte. Vielmehr wurde Diohs Arbeit gelobt. Entgegen der Wokeness-Kritik der Tageszeitungen kommentierte Spoken Word Artist Fatima Moumouni: «Wir müssen die Frage der Diversität und die Frage der Qualität auseinanderhalten.» Dass ein diverses Künstler*innenteam schlechtere Darbietungen liefere als ein homogenes, sei ein sehr problematisches Vorurteil. Dioh stimmte zu und fügte an: «Es ist ein Fehlglaube, dass marginalisierte Gruppen nur Kunst zum Thema Marginalisierung produzieren können.» Sie betonte ausserdem, dass es leider nach wie vor politischer Zündstoff sei, alte Geschichten mit neuen Körpern zu erzählen, zum Beispiel mit Körpern von schwarzen oder queeren Personen. Das Schauspielhaus nehme hier eine Vorreiterrolle ein.
Zurückhaltender formulierte es Intendant Blomberg. Die Frage nach Diversität werde intern ständig neu verhandelt, erklärte er. Dabei hoffe man, in etwa die Zürcher Gesellschaft zu spiegeln. Denn das grosse Ziel des Schauspielhauses als Stadttheater sei es, Theater für alle Zürcher*innen zu produzieren, so Blomberg. Man wolle neue Gruppen ansprechen, zum Beispiel junge Leute und Menschen mit Migrationshintergrund. Eine diverse Gesellschaft verlange ein Theater, das diverse Lebensrealitäten anspreche. Passend dazu hatte schon Stemann gesagt: «Die Schicht aus Bildungsbürger*innen, wie wir sie vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kennen, gibt es nicht mehr.»
Klage über fast leere Bühnen
Handfeste Kritik ernteten die Intendanten nicht zur «Wokeness», sondern zur Einseitigkeit des jetzigen Regietheaters. Ein Herr beklagte, dass jeweils zu wenige Schauspieler*innen auf der Bühne stünden. Und leider könnte man nur selten Interaktionen zwischen den Figuren beobachten. Das sei ein grosser Unterschied zur vorangehenden Intendanz von Barbara Frey, fügte er an. Blomberg pflichtete diesem Kommentar bei und versprach für die kommende Spielzeit ein grosses Ensemblestück.
Das letzte, kurz gehaltene Podium widmete sich technischen Fragen. Zuschauer*innen konnten Verbesserungswünsche zu Spielzeiten, den Räumlichkeiten und der Website anbringen. Für Tumult sorgte ein Herr, der die gendergerechte Sprache im Programmheft kritisierte. «So spricht das Volk nicht!», rief er. Ein Grossteil des Publikums quittierte seine Aussage mit Buhrufen. Auf der Bühne reagierte die Theaterpädagogin Zora Maag höflich, in dem sie erklärte, dass eine gendergerechte Schreibweise sie miteinbeziehe, was toll sei.
Müsste man dem Publikumsgipfel eine Rezension verpassen, wäre sie mittelmässig. Zu viel Sprechzeit nahmen die Angehörigen des Schauspielhauses ein. Und wenige Positionen überraschten. Eine Tatsache sticht jedoch ins Auge: Der einzige politische Kritikpunkt des Publikums bezog sich auf die gendergerechte Sprache. Und damit auf ein Thema, das nicht theaterspezifisch ist. Die restlichen Punkte betrafen die Theaterkunst an sich. Mehr Bezüge zum klassischen Text und mehr Schauspieler*innen auf der Bühne – das sind die zentralen Forderungen. Sie haben mit Diversität wenig zu tun.