Warten auf die Stipendien von Bildungsdirektorin Silvia Steiner.

Das Zürcher Stipendiendebakel

Der Kanton verschleppt Gesuche, Uni und ETH springen in die Bresche. Nun wurden im Kantonsrat mehrere Vorstösse eingereicht. Von leeren Versprechen, endlosen Wartezeiten und resignierten Studierenden.

Carlo Mariani (Text) und Noah Liechti (Illustration)
12. Dezember 2022

Im Hintergrund läuft Jazz, es tröpfeln an diesem Freitagmorgen nur ein paar wenige ältere Leute ins Foyer herein. Dina* macht Kaffee, verkauft hin und wieder ein Ticket und weist den Kund*innen den Weg zu den Sälen in einem Zürcher Kino.

«Es kann sein, dass jemand hereinkommt, dann muss ich halt bedienen», sagt die 23-Jährige, als gerade keine Kund*innen da sind. Dina arbeitet hier neben dem ETH-Studium 60 Prozent. Das muss sie, denn ihre Eltern können sie nicht unterstützen und mit dem Stipendium hat es nicht wirklich klappen wollen.

Dina stammt aus ärmlichen Verhältnissen und muss nun selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Sie stellte Anfang Studium im Sommer 2019 zum ersten Mal einen Stipendienantrag beim Kanton Zürich. «Ich habe ein ziemlich schlechtes Verhältnis zu meinem Vater und bin darum nicht an alle nötigen Dokumente gekommen», erzählt sie. Ihre Begründung habe dem Kanton nicht gereicht, der Antrag wurde abgewiesen.

Chaos beim Stipendienamt

«Im zweiten Studienjahr dachte ich, jetzt mach ich’s richtig.» Sie hatte gewisse Dokumente zwar immer noch nicht, rief aber an und erklärte ihre Situation. Darauf versprach das kantonale Stipendienamt, sich ihren Antrag trotzdem anzuschauen. So schickte sie im Oktober 2020 per Einschreiben alle Unterlagen und die sogenannte Quittung ein, eine Bestätigung, dass alle Angaben richtig seien. Schon bald stand auf dem Online-Portal, ihr Gesuch sei in Bearbeitung. Und dann wartete sie.

Nach mehreren Monaten erkundete sie sich nach dem Stand der Dinge und dann hiess es, der Antrag sei noch immer in Bearbeitung. Dina wartete wieder und rief Ende Semester, im Sommer 2021 nochmals an: Die Quittung sei nicht eingegangen. «Wahrscheinlich haben sie etwas geschlampt und mein Antrag ist einfach untergegangen», vermutet sie. Sie beschwerte sich telefonisch und wurde informiert, die Frist sei ja sowieso schon lange vorbei, sie könne aber ein neues Gesuch stellen. Und zwar für das neue akademische Jahr, denn die Gesuche müssen im Kanton Zürich für jedes Studienjahr neu gestellt werden. Rückwirkende Gesuche sind nicht möglich.

Die Wartezeit beträgt ein ganzes Jahr

«Langsam geriet ich in finanzielle Nöte», erzählt sie. Deshalb habe sie dann mit dem Job im Kino angefangen. «Ich konnte es mir nicht mehr leisten Vollzeit zu studieren.» Denn bis dahin studierte sie im regulären Curriculum und arbeitete dazu bis zu 30 Prozent. Trotzdem stellte sie einen Antrag für das neue Studienjahr. Das war im Sommer 2021. Erst im Herbst dieses Jahres erhielt sie schliesslich den positiven Bescheid. «Es ist schön, dass es doch noch geklappt hat, aber ich bin jetzt halt bald mit dem Studium fertig», sagt sie.

«Ich konnte es mir nicht mehr leisten Vollzeit zu studieren.»
Dina*, Studentin an der ETH Zürich

Dinas Fall zeigt, dass im Kanton Zürich in Sachen Stipendien offenbar einiges falsch läuft. Die Geschichte beginnt mit einer Stipendienreform: Kantons- und Regierungsrat wollten das bestehende System «schlanker und transparenter» machen, wie es in einem NZZ-Artikel von 2013 steht. Als die Reform 2015 vom Kantonsrat beschlossen wurde, titelte die gleiche Zeitung «Mehr Stipendien für Studierende». Die Rede war von mehr Bezugsberechtigten, Vereinfachung, zügigen Verfahren, Wegfall unnötiger Bürokratie.

Ursprüngliches Ziel weit verfehlt

Doch seitdem letztes Jahr die neue Stipendienverordnung und das angepasste Bildungsgesetz in Kraft traten und die Reform offiziell ihren Abschluss fand, verlängerten sich die Wartezeiten für die Antragstellenden enorm.

Studierende müssen im Kanton Zürich momentan ein ganzes Jahr auf einen Stipendienbescheid warten. In anderen Kantonen sind es wenige Wochen bis maximal ein halbes Jahr. Ursprünglich war das Ziel, als Übergangszeit nach der Reform für dieses Jahr 70 Tage Bearbeitungszeit zu erreichen, ab nächstem Jahr 50. Allerdings beträgt die offizielle Bearbeitungszeit der Gesuche in diesem Jahr Stand November durchschnittlich 4.5 Monate. Und aktuell behandelt der Kanton noch die Gesuche, die zwischen Januar und April eingegangen sind. Deshalb warten die potenziellen Antragstellenden noch weit länger als die ohnehin schon zu lange Bearbeitungszeit.

Versprechen der Bildungsdirektorin kann nicht gehalten werden

André Woodtli, Chef des Amts für Jugend und Berufsberatung, begründet auf Anfrage der ZS das Schneckentempo mit der missratenen Reform: «Wir brauchten erstens mehr Zeit für die Umstellung als geplant und erreichten zweitens nicht die eigentlich angestrebte Bearbeitungsgeschwindigkeit pro Gesuch.» Und er gesteht, dass die Gegenmassnahmen wenig gebracht hätten: «Die Wirksamste – nämlich der Einsatz von zusätzlichem Personal – brauchte Zeit, ehe sie griff.» Das Amt habe seine Personalkapazitäten vorübergehend fast verdoppelt.

«Wir werden in den ersten Monaten des nächsten Jahres die angestrebte Bearbeitungszeit pro Gesuch erreichen.»
André Woodtli, Chef des Amts für Jugend und Berufsberatung

Seine Chefin, Bildungsdirektorin Silvia Steiner, versprach im August in der NZZ, die Rückstände bis Ende Jahr aufzuholen. Aber kann das bereits nach oben korrigierte Ziel einer Bearbeitungszeit von 90 Tagen ab nächstem Jahr überhaupt noch erreicht werden? «Ja, dieses Versprechen kann gehalten werden», schreibt Woodtli. Doch er meint wohl nicht ab dem 1. Januar 2023: «Wir werden in den ersten Monaten des nächsten Jahres durch das zusätzliche Personal, den unermüdlichen Einsatz der Stipendienabteilung und durch die Optimierung der Prozesse die angestrebte Bearbeitungszeit pro Gesuch erreichen.»

«Weiterhin ein wichtiger Beitrag zur Chancengleichheit»

Dass dieses Ziel erreicht werden kann, scheint einigermassen realistisch, denn die Anzahl hängiger Gesuche werde gemäss dem Amtschef aktuell mit jeder Woche kleiner. Doch wenn der Pendenzenberg nicht schnell abgebaut wird, geht das Warten weiter.

Die Vision der Bildungsdirektion laute: «Die Ausbildungsbeiträge des Kantons sollen weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Chancengleichheit leisten», so Woodtli. Stattdessen müssen zurzeit die Hochschulen einspringen, um den Studierenden ein Studium zu ermöglichen.

Die Hochschulen bearbeiten die Gesuche vorzeitig

«Es ist eigentlich eine untragbare Situation. Der Kanton ist verpflichtet Ausbildungsbeiträge zu vergeben, die Studierenden brauchen das Geld», sagt Barbara Hellermann, Leiterin Studienfinanzierung an der ETH. Seit letztem Jahr springt ihre Abteilung in die Bresche: «Im Prinzip fängt die ETH die fehlenden kantonalen Stipendien auf: Wenn die Gesuche eintreffen, bearbeiten wir sie, ohne dass wir die kantonalen Beiträge kennen – damit wenigstens unsere Stipendien ankommen.» Doch das sei auch mit einem grossen Aufwand verbunden, denn, «wenn das kantonale Stipendium vorliegt, müssen wir alles neu berechnen.»

«Studierende, die noch auf den Bescheid des Kantons Zürich warten, sollen sich unbedingt bei uns melden und einen Antrag stellen»
Barbara Hellermann, Leiterin Studienfinanzierung der ETH

Die Hochschule kennt neben Exzellenz- auch Sozialstipendien. Solche sind für Studierende gedacht, die ergänzend zur Unterstützung der Eltern oder zu einem kantonalen Stipendium Geld brauchen. Die ETH ist dabei grosszügiger als der Kanton und «füllt auf», falls die Stipendien nicht ausreichen. 65 Prozent des Lebenshaltungskosten sollen gedeckt werden. Und wer hier studiert, braucht gemäss der ETH etwa 25’000 Franken im Jahr.

Seit Jahren lange Wartezeiten

Ob das Geld an der ETH wegen der aktuellen Situation knapp werde? Hellermann verneint. Es seien derzeit etwa 35 Studierende betroffen. Sie ermutigt: «Studierende, die noch auf den Bescheid des Kantons Zürich warten, sollen sich unbedingt bei uns melden und einen Antrag stellen – vor allem, wenn es finanziell knapp wird.» Das gehe ganz einfach online. «Es würde helfen, wenn in der Politik das Interesse an denjenigen Studierenden da wäre, welche die Beiträge brauchen», sagt Hellermann. «Wenn Institutionen es ermöglichen, dass diejenigen, die das Geld wirklich brauchen, ohne Sorgen ihrem Studium nachgehen können, tut man auf eine ganze Generation hin etwas Gutes.»

Auch an der Universität Zürich kann, wenn der Bescheid des Kantons noch nicht vorliegt, trotzdem ein Stipendiengesuch eingereicht werden. Die Uni rechnet mit ähnlichen Zahlen: 24'000 Franken bräuchten Studierende mindestens pro Jahr, es würden wie an der ETH maximal circa 18'000 Franken ausbezahlt. Brigitte Ortega, Leiterin der Studienfinanzierung der Uni, äusserte sich in der NZZ dem Kanton gegenüber kritisch. Es gebe in Zürich «seit Jahren» lange Wartezeiten und die Gesetzgebung sei verglichen mit anderen Kantonen «sehr kompliziert», liess sie sich zitieren.

Schuld sei die Reform

Unterdessen bewegt sich in der Politik etwas. Leandra Columberg studiert an der Uni Zürich Rechtswissenschaften und sitzt für die SP und die Juso im Kantonsrat. «Bildungsdirektorin Silvia Steiner sollte eine ehrliche Beurteilung der Lage vornehmen und erreichen, dass die Leute, die auf Stipendien angewiesen sind, diese auch erhalten und die Anträge binnen einer vernünftigen Frist bearbeitet werden – sicher nicht mehr als 50 Tage», fordert die 23-jährige Politikerin.

Bereits 2021 reichte ihre Partei zusammen mit den Grünen und der AL eine dringliche Interpellation ein, die von links bis rechts getragen wurde, worauf die Bildungsdirektorin im Januar dieses Jahres dem Kantonsrat die Missstände im Stipendienwesen erklären musste. Schuld sei die Reform, sie bedauerte die Verzögerungen im Namen des Regierungsrates. Es folgten mehrere Medienberichte über die ewigen Wartezeiten im Kanton.

«Die Kommunikation der Bildungsdirektion ist unehrlich.»
Leandra Columberg, Kantonsrätin SP/Juso

Diesen November haben einige linke Parlamentsmitglieder zusammen mit der EVP eine Motion eingereicht, die den Regierungsrat auffordert, «die Rechtsgrundlagen für die Ausbildungsbeiträge so anzupassen, dass die Verfahren vereinfacht und die Gesuchsbearbeitungszeit entsprechend verkürzt werden kann.» Sogar die Partei der Bildungsdirektorin, die Mitte-Partei, hat zeitgleich ebenfalls eine etwas sanfter formulierte Motion eingereicht.

2.3 Millionen Franken sollen es richten

Hinzu kommt ein Budgetantrag, der schon am 13. Dezember beraten werden könnte. Er stammt von der sogenannten Fortschrittsallianz, bestehend aus linken Parteien, GLP und EVP, die im Kantonsrat eine Mehrheit halten. Sie fordert zusätzliche 2,3 Millionen für das Stipendienamt, damit das angestrebte Ziel von 50 Tagen Bearbeitungszeit schon nächstes Jahr anstatt erst 2024 erreicht werden kann und die aufgestauten Gesuche schnell abgearbeitet werden können. Columberg unterstützt den Antrag, denn sie bezweifelt, dass das 50-Tage-Ziel bis 2024 erreicht werden kann: «Die Kommunikation der Bildungsdirektion ist unehrlich. Jetzt sollen die 50 Tage Bearbeitungsdauer magischerweise übernächstes Jahr erreicht werden.»

Auch SP-Kantonsrätin Sibylle Marti prangert die Missstände im Stipendienwesen an. Sie initiierte letztes Jahr die dringliche Interpellation und hat diesen November die aktuell noch hängige Motion mitunterzeichnet. Sie sagt, Ziel der Reform sei es gewesen, dass es einfacher werde und dadurch mehr Leute zu Stipendien kommen könnten. «Heute wartet man aber so lange, dass sich der Anspruchskreis automatisch verkleinert. Denn auch wenn Leute Anspruch hätten, können sie diesen nicht in nützlicher Frist geltend machen», sagt sie.

Es braucht «gefühlt 3000 Dokumente»

Bis die Politik gehandelt hat, warten die Studierenden weiter. Wie Dina, musste auch ETH-Studentin Sara* über ein Jahr auf ihren Bescheid warten. «Es war sehr hart. Ich konnte nichts unternehmen, ich musste immer aufs Geld schauen.» Und erst nach acht Monaten erhielt sie überhaupt Anrecht auf eine Erklärung für die Verzögerung: Zu wenig Kapazität, sie müsse sich halt gedulden.

«Den finanziellen Stress kann ich nicht mehr ertragen.»
Sara*, Studentin an der ETH Zürich

Sara gelangte schliesslich zur Studienfinanzierung der ETH, wo sie nach einer Woche die Bestätigung für ein Sozialstipendium erhielt. «Da war es zum Glück nicht wie beim Kanton, wo ich gefühlt 3000 Dokumente auftreiben musste, inklusive Geburtsurkunde.»

Das Vertrauen der Betroffenen ist erschüttert

Obwohl beide schlussendlich ein Stipendium erhalten haben, ist sowohl bei Sara als auch bei Dina das Vertrauen erschüttert. «Vielleicht muss ich jetzt das letzte Semester auf zwei aufteilen, den finanziellen Stress kann ich nicht mehr ertragen. Dann gehe ich lieber mehr arbeiten, damit ich mein Studium selbst finanzieren kann», sagt Sara.

Dina hat bereits im Frühjahrssemester dieses Jahres ihr Studium heruntergefahren, um öfters im Kino arbeiten zu können. Obwohl sie nach langem Warten nun doch noch ein Stipendium erhalten hat, ist sie misstrauisch: «Ich möchte mich eigentlich nicht mehr darauf verlassen. Wenn ich arbeiten gehe, weiss ich, dass ich das Geld wirklich erhalte.»

Die Filme im Kino neigen sich diesen Vormittag einem Ende zu, doch das Zürcher Stipendiendebakel spielt weiter.  

*Namen geändert

Zusammenarbeit ZS-Polykum

Dieser Artikel wird in einer kürzeren Version auch in der dritten Ausgabe 2022/23 des Polykums publiziert. Die Zeitschrift erscheint am 19. Dezember 2022.