Mit Schwammfäusten den starken Mann markieren: eine Szene aus der Neuinszenierung «Eliogabalo» am Opernhaus Zürich. Monika Rittershaus

Mit Männlichkeit spielen

Thema — Bühne und Leinwand prägen das Selbstbild. Heute existieren in Theater, Film und Oper diverse Männertypen.

Leah Süss (Text)
5. Dezember 2022

«Männer haben Muskeln, Männer sind furchtbar stark, Männer können alles, Männer kriegen 'nen Herzinfarkt.» Das singt Herbert Grönemeyer in seinem 1984-Hit. Seine zentrale Frage: «Wann ist ein Mann ein Mann?» steht heute auf lokalen Bühnen noch im Rampenlicht.

«Männlichkeit ist für mich eine offene Frage», sagt Elvio Avila, ein argentinischer Performancekünstler. Eine Identifikationsfrage, die verunsichert, aber auch inspiriert. So hat er zusammen mit dem Schweizer Film- und Theaterkünstler Savino Caruso ein Theaterstück geschrieben, wofür sie letztes Jahr den Schweizer Nachwuchspreis für Theater erhielten. Es wird noch immer schweizweit aufgeführt. In «Mi vida en tránsito» sprechen sie über ihre Freundschaft und ihre Gefühle. Avila wird während der Aufführungen aus Argentinien per Zoom zugeschaltet.

In «Mi vida en tránsito» stehen Elvio Avila (digital) und Savino Caruso im Dialog. Ralph Kühne

Caruso erzählt, dass ihn eine Frau nach einer ihrer Aufführungen an der Bar angesprochen habe und meinte, ihr Bruder müsse das Stück unbedingt sehen. Denn es wäre gut, wenn dieser «auch mal Männer sehe, die liebevoll miteinander umgehen». Für Caruso ein Zeichen: «Es braucht neue Helden in der Popkultur!» Solche hätten sie mit ihrer Inszenierung verkörpern wollen. Ausserdem  wollten sie explizit eine Verbindung zwischen psychischer Erkrankung und männlicher Erziehung aufzeigen. «Es hat nichts mit Stärke zu tun, sich keine Hilfe zu holen», betont Caruso.

Im Stück wird so auch die hohe Suizidrate unter Männern thematisiert. 2020 wurden 71 Prozent der Selbsttötungen in der Schweiz von Männern begangen. Auch der 37-jährige Avila litt, als die beiden sich kennenlernten, an einer suizidalen Depression. Rückblickend meint er, dass ihn die bedingungslose Freundschaft mit Savino Caruso gerettet habe. Denn dieser sei ihm in stundenlangen Gesprächen zur Seite gestanden, ohne ihn vorher gekannt zu haben oder etwas im Gegenzug zu erwarten.

Sexismus in der Umkleide

Avila betont, dass im Umgang zwischen Männern teilweise «toxische Dynamiken» entstünden. In seinem lokalen Fussballclub sei es etwa wichtig, dem Bild eines Machos zu entsprechen. Er fügt aber an, dass in der breiten argentinischen Gesellschaft seit den feministischen Strömungen in Südamerika, darunter die «Ni Una Menos»-Bewegung aus Argentinien, vielfältigere Rollen für Männer möglich seien. Lackierte Fingernägel seien für seinen Fussballverein jedoch zu viel.

Von intim zu toxisch: die Dynamiken zwischen Fussballern im Film «Sieger» (2023). Chantal Chienco

Diesem Thema nimmt sich auch der Filmstudent Edgar Gomes Ferreira in seinem Bachelorprojekt «Sieger» an. Sein Film zeigt laut ihm «toxische Dynamiken» innerhalb von Sportmannschaften und deren Auswirkungen auf die jungen Männer sowie deren Freundinnen. Der Liechtensteiner hat solche Dynamiken selbst erlebt, denn viele in seinem Umfeld seien in Fussballclubs gewesen. «In diesem Sport entwickeln sich intime, auch körperlich nahe Freundschaften, aber sobald diese potentiell als zu weich oder homosexuell wahrgenommen werden, können in der Gruppe Konflikte entstehen.» Die jungen Männer litten zwar darunter, aber paradoxerweise würden sie die Atmosphäre selbst aufrechterhalten, etwa in den Umkleidekabinen, wo oft sexistische Sprüche fallen. «Sieger» soll diese Verhaltensmuster neutral beleuchten, meint Gomes Ferreira. Damit habe er nicht nur seinen Projektbetreuer, sondern auch die Schauspieler, welche selbst Fussballer sind, zum Reflektieren gebracht.

«Es ist schwierig bis unmöglich, plötzlich ein Anderer zu sein.»
Savino Caruso, künstlerische Leitung «Mi vida en tránsito»

Für Caruso ist Männlichkeit nicht nur ein theoretisches Konzept, sondern, ähnlich wie Sexualität, emotional verankert. «Es ist schwierig bis unmöglich, plötzlich ein Anderer zu sein. Man muss sich tief mit der eigenen Identität beschäftigen und hinterfragen, wie man sozialisiert wurde», so Caruso. Ausserdem brauche es Mut, sich in unangenehme Situationen zu begeben.

Musiker dürfen Gefühle zeigen

Dies aufzuzeigen, wird auch am Schauspielhaus Zürich versucht. Im  Stück «My Heart is Full of Na-Na-Na» sind vier Männer von 14 bis 41 ihren negativen Emotionen ausgesetzt, zwei von ihnen sind suizidal. Ein gescheiterter Arzt, ein gescheiterter Sänger und zwei Söhne, die sich um den eigenen Vater kümmern müssen, und dabei ihre Emotionen primär in Form von Wut ausdrücken. Der Autor des Stücks Lucien Haug betont, dass viele Männer ihre Gefühle noch immer nicht anerkennen würden. Dies könne destruktives Verhalten begünstigen, etwa in Form von physischer und emotionaler Gewalt, mangelndem Selbstwert oder Abwesenheit als Elternteil. Doch das Stück bietet am Ende einen Hoffnungsschimmer für einen zärtlichen Umgang unter Männern, der über das gemeinsame Fernsehschauen hinausgeht. «Mein Ziel war es, dass man am Schluss eine Gruppe von Männern auf der Bühne sieht, zu denen man sich als männlich sozialisierte Person gerne dazu gesellen würde», so Haug. Er selbst erlebe dies im Alltag als nicht selbstverständlich.

Den Figuren in «My Heart is Full of Na-Na-Na» hilft Musik, ihre Gefühle auszudrücken. Zoé Aubry

In «My Heart is Full of Na-Na-Na» hat auch Musik eine besondere Bedeutung. Ein ehemaliger Eurovision-Song-Contest-Star bringt die zerstrittene Familie zusammen. Und die Charaktere scheinen beim Tanzen und Singen ihrer Lieblingslieder emotional gelöster. Ähnlich hat es Haug selbst erlebt: «Meine eigene Faszination für den Eurovision Song Contest kam als Jugendlicher unter Jungs nicht gut an. Die Musik, die man hört, wird als Teil der Geschlechtsidentität gelesen.» Die Regisseurin des Stücks Suna Gürler ergänzt: «In der Musikwelt ist es männlich gelesenen Menschen aber erlaubt, Gefühle zu zeigen, die über Wut hinausgehen.»

«Männer weinen nicht»

Schliesslich wird auch am Opernhaus Zürich im Dezember ein Stück aufgeführt, dass «der Frage nachgeht, was Männlichkeit heute bedeutet». Beate Breidenbach, langjährige Dramaturgin des Hauses, arbeitet an dieser Neuproduktion namens «Eliogabalo» mit. Die Oper von Francesco Cavalli entstand 1667, wurde aber erst 1999 uraufgeführt. Sie erzählt die Geschichte der historischen Figur Elagabalus, einem machtbesessenen 14-Jährigen, der im Jahr 218 nach Christus auf den römischen Kaiserthron gelangte, und durch seine Exzesse und bizarren sexuellen Vorlieben berühmt wurde. Das Opernhaus schreibt über den Protagonisten: «Besitzen will er eigentlich alle Frauen, und um dieses Ziel zu erreichen, greift Eliogabalo zu durchaus fantasievollen Mitteln.» Er probiere etwa seine Begehrten «mit Schlafmitteln gefügig» zu machen und schrecke aus Eifersucht auch vor Mord nicht zurück.

Laut Breidenbach ist die Figur vielschichtiger als vermutet: «Eliogabalo ging als einer der verrücktesten Herrscher überhaupt in die Geschichte ein. Vieles an seinem Verhalten könnte man mit dem heute sehr beliebten Schlagwort ‹toxische Männlichkeit› bezeichnen.» Zugleich sei er aber auch als Frau aufgetreten und habe sich sogar unter Prostituierte gemischt. Das würde man laut Breidenbach heute wohl als «genderfluid» bezeichnen. «Unsere Neuinszenierung im Opernhaus macht diesen Aspekt besonders sichtbar», so die Dramaturgin. Unter der Regie von  Calixto Bieito, der für brutale Aufführungen bekannt ist, seien «erstaunlich moderne Menschen» auf der Bühne zu sehen. Junge Darsteller*innen würden Charaktere spielen, mit denen sich auch junge Zuschauer*innen identifizieren könnten.

Die Kulturszene zeigt heute also ein differenziertes Bild von Männlichkeit. Doch laut Gürler, die mit «My Heart is Full of Na-Na-Na» besonders eine jugendliche Zielgruppe abholen will, herrschen in der jungen Generation weiterhin auch einseitige Bilder: «Wenn man mit Jugendlichen die Themen der Aufführung bespricht, sehen einige Klassen diese bereits als selbstverständlich an. Andere stehen jedoch geschlossen hinter der Aussage ‹Männer weinen nicht›.»