Schlitteln statt Fussball schauen
Der Verein «Alternative zur Weltmeisterschaft 2022» setzt sich für einen Boykott des FIFA-Turniers ein. Ein Alternativprogramm soll diesen erleichtern.
Alle Augen sind auf Katar gerichtet: Am 21. November hat dort die Fussball-Weltmeisterschaft begonnen. Doch nicht alle schauen mit Begeisterung hin – der junge Verein «Alternative zur Weltmeisterschaft 2022» ist einer davon.
Beerpong als WM-Ersatz
Von Beginn an war die WM-Vergabe an Katar äusserst umstritten. Gründe für die Kritik gibt es vielerlei und mittlerweile ist allgemein bekannt: Die Menschenrechtslage im Golfstaat ist prekär, die klimatischen Bedingungen für den Sportanlass unpassend. Menschenrechtsorganisationen sprechen von 15’000 Toten – Bauarbeiter*innen, die direkt am Bau von Stadien und weiterer Infrastruktur beteiligt waren und dabei ums Leben kamen. Kaum erstaunlich also, dass es zu Widerstand kam. In mehreren französischen Grossstädten, darunter Paris und Marseille, gibt es keine Public Viewings der WM oder andere Begleitanlässe. Auch der Zürcher Gemeinderat hat am 16. November entschieden, dass Public Viewings auf öffentlichem Grund nicht bewilligt werden. Und auch Privatpersonen reagierten: Etliche treu ergebenen Fussballfans haben bitteren Herzens entschieden, die Meisterschaft dieses Jahr nicht mitzuverfolgen. Unter ihnen ist eine Gruppe junger Studierende aus Zürich.
Vor einem Jahr schlossen sich zwei Studierende, heute Co-Präsidenten des Vereins, zusammen, um Fussballfans einen Anreiz zu bieten, die WM in Katar zu boykottieren. Mittlerweile zählt der Verein 50 aktive Mitglieder. Auf ihrer Website und auf Instagram betreiben sie Aufklärungsarbeit und legen ihre Beweggründe dar. Sie möchten aber nicht bloss überzeugen, sondern Menschen zusammenbringen: So bieten sie Gleichgesinnten an jedem Datum, an dem die Schweiz spielt, ein Alternativprogramm an. Die Teilnahme an den Aktivitäten steht allen offen, das Programm ist dementsprechend vielfältig. Von Spieleabenden über Beerpong-Turnieren bis zu Schlittelausflügen ist alles dabei. Der Bezug zum Fussball wird trotz abwechslungsreichem Programm nicht vernachlässigt: Den Startschuss machte ein gemeinsamer Besuch des Spiels des FCZ-Frauenteams gegen Olympique Lyon am 24. November.
Effektivität des Boykotts noch unklar
Bisher ist das öffentliche Interesse am Verein gross. Moritz Hirt, Co-Präsident des Vereins, sagt dazu: «Viele finden es spannend, dass sich junge Fussballbegeisterte wie wir engagieren und auf etwas verzichten, das uns wichtig ist.» Die Reaktionen seien aber nicht allesamt positiv. Oft hörten Vorstandsmitglieder dieselbe Kritik: Boykotte seien unsinnig oder ineffektiv. Auch sei es arrogant, überhaupt etwas in diese Richtung zu postulieren. Tatsächlich lässt sich momentan noch schwer sagen, wie effektiv ein Boykott der WM wirklich wäre. Die Auswirkungen werden sich wohl erst nach der Meisterschaft zeigen. Auch der Vorstand des Vereins ist sich dessen noch unsicher. Sie hoffen aber, dass sie der FIFA ein Signal senden können. Deren Einnahmen würden unter einem Boykott leiden. Dadurch würden Anreize gesetzt, die nächste Standortvergabe anders handzuhaben.
In kleineren Ländern und Ligen sind solche drastischen Massnahmen seitens der Zuschauer*innen noch nicht nötig, wie ein einschlägiges Beispiel aus der Schweiz zeigt. Im Mai dieses Jahres wollte die Swiss Football League in der Super League einen Playoff-Modus einführen. Der Protest gegen eine solche Neuregelung der Meisterschaft, vor allem von Fanclubs, war enorm. Nun wird der verhasste Modus abgeschafft, bevor er überhaupt eingeführt wurde.
Geht es aber um grosse Verbände wie die FIFA, sieht es anders aus. Für den Boykott hat sich der Verein unter anderem entschieden, weil dieser für einzelne Fussballfans eine der wenigen Methoden ist, etwas zu verändern: «Als Einzelperson hat man keinen Einfluss in grossen Organisationen wie der FIFA, geschweige denn die Möglichkeit, politische Mittel wie Initiativen einzusetzen. Protest muss hier von unten kommen: Rückmeldungen wie tiefe Einschaltquoten muss die FIFA zur Kenntnis nehmen.»
Statt auf Boykott setzen die Organisator*innen der Demonstration «Love Football Hate FIFA» auf lauten Protest. Diese Methode steht ebenfalls allen offen und ist oft wirksamer. Am 19. November versammelte sich die Gruppe auf dem Helvetiaplatz und demonstrierte gegen die Machenschaften der FIFA, bei denen sie Missbräuche des Fussballs zur Bereicherung sehen. Auf Transparenten waren Sätze zu lesen wie: «Liebsch de Fuessball, hassisch d FIFA» und «Gegen die Spiele der Reichen – unser Fussball, unsere Kultur, unsere Stadt!». Einen besonderen Schwerpunkt setzte die Demonstration auch auf die Kooperation der WM mit Schweizer Banken, Firmen und Grosskonzernen.
«Fussball wird zu einem Hochglanzprodukt»
Die Sorgen um den Fussball als allgemein zugänglicher Sport, der die Menschen vereint, sind also weit verbreitet, besonders während der diesjährigen WM. Dennoch sieht der Verein keine moralische Verantwortung, die WM zu boykottieren. «Es gibt viele Gründe, die für einen Boykott sprechen, besonders als Fussballfan. Wichtig ist aber vor allem, dass sich alle mit der Thematik auseinandersetzen und eine Entscheidung treffen, die ihnen passt. Zu sagen, es sei von Grund auf falsch, die Spiele zu schauen, wäre zu kurz gegriffen.» So steht der Verein einer staatlichen Einmischung in das Boykott-Verhalten von Einzelnen auch eher kritisch gegenüber. Anlässe wie Public Viewings im öffentlichen Raum zu verbieten, wie es jüngst in der Stadt Zürich gemacht wurde, sei nicht der richtige Ansatz. «In die Pflicht genommen werden, muss die FIFA, nicht Gastwirt*innen und Leute aus dem Eventsektor», so Moritz Hirt. Diese hätten in den Corona-Jahren bereits genug gelitten.
Eine Auseinandersetzung mit der WM-Vergabe an Katar ist auch eine Auseinandersetzung mit den Grundwerten des Fussballs. Seit eh und je wird dieser als Volkssport gehuldigt, niederschwellig, für viele zugänglich. Er verbindet Menschen miteinander, sei es beim gemeinsamen Spielen oder beim Besuch eines Spiels im Stadion. Eine Verletzung dieser Werte erkennt Hirt an verschiedensten Stellen in der Fussballwelt. Katar sei nur ein Beispiel, ein Aushängeschild für eine generelle Entwicklung. Von Jahr zu Jahr erhöhten sich die Preise für Stadiontickets, und es werde vermehrt ein Fokus auf Fernsehübertragungen gelegt. So entwickle sich Fussball zu einem kommerzialisierten Hochglanzprodukt, bei dem die Fans im Stadion, also die Gemeinschaft, auf der alles basiere, vergessen gehe. «Aus den Grundprinzipien des Fussballs geht auch eine gewisse soziale Verantwortung hervor. Dieser Kern sollte gewahrt werden. Der offizielle Fussball, repräsentiert durch FIFA und UEFA, kommt dem aber nicht mehr nach. Er entfremdet sich immer stärker von seiner Basis», sagt Moritz Hirt.
Der Verein «Alternative zur Weltmeisterschaft 2022» wurde, wie der Name schon sagt, anlässlich des aktuellen Events gegründet und so beschränkt sich sein Engagement vor allem darauf. Ob und wie sich Vorstand und Mitglieder nach deren Ende weiterhin engagieren werden, ist noch unklar. Sicher ist aber: Sie lieben den Fussball und werden sich weiterhin leidenschaftlich für ihren Sport einsetzen.