«In diesem Land ist niemand sicher»
Drei Studentinnen aus Russland berichten von geflüchteten Professoren, betroffenen Studierenden und geplatzten Träumen.
Am 21. September hat der Kreml die Teilmobilisierung beschlossen und angefangen, Männer einzuziehen. Die Behörden versicherten, dass nur Reservisten betroffen seien, also Männer unter 60 Jahren mit militärischer Erfahrung. Doch der Aufruf gleicht in der Realität eher einer Generalmobilmachung: Auch Ältere, Kranke und Männer ohne Kampferfahrung, darunter Studenten, haben den Einberufungsbefehl erhalten. Besonders unter ethnischen Minderheiten hat die russische Armee überproportional rekrutiert. In einigen Gemeinden fehlen die Hälfte der Männer.
Offiziell geht es bei der Teilmobilmachung um 300’000 Reservisten. Am 14. Oktober verkündete Putin, es gebe «auf absehbare Zeit» keine weiteren Einberufungen. Doch Kritiker*innen befürchten eine zweite Mobilisierungswelle, die bereits im Gange sein soll. Allerdings scheint Putins Plan nicht aufzugehen. Statt Gehorsam macht sich Panik breit: Zwischen 400’000 und 700’000 Menschen sollen das Land verlassen haben. Obwohl Männern bei Wehrdienstverweigerung bis zu 10 Jahre Gefängnis drohen. Auch wurde mehrenorts protestiert und Tausende wurden festgenommen.
Russland-Expert*innen bezeichnen die Situation als Wendepunkt: Denn die Hunderttausenden von Männern, die dem Land diesen Winter fehlen werden – ob sie auf der Flucht oder an der Front sind – würden die Wirtschaft voraussichtlich stärker als die bisherigen Sanktionen belasten. Und bereits jetzt sind die Folgen des Krieges für die Gesellschaft spürbar, auch an den russischen Universitäten. Die ZS hat mit den drei Wirtschaftsstudentinnen Dasha, Alyona und Sofia* gesprochen. Sie leben in russischen Grossstädten und erzählen, was sie derzeit beschäftigt.
*Namen von der Redaktion geändert
Laut dem Kreml sind Männer in Ausbildung von der Teilmobilisierung ausgenommen. Medienberichten zufolge wurden trotzdem Studenten eingezogen – manchmal direkt vor den Hörsälen. Wie sieht es an euren Universitäten aus?
Alyona: Soviel ich weiss, kommt das nicht oft vor. Auf jeden Fall wurde zum Glück niemand meiner Mitstudenten oder Freunde rekrutiert. Ich glaube aber nicht, dass sie wirklich sicher sind. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich sofort das Land verlassen.
Sofia: Ich habe gehört, dass es in kleinen Städten vorgekommen ist. An den grossen Universitäten in Moskau ist das sehr unwahrscheinlich, weil es sehr schnell publik würde. Aber vor Kurzem wurde bekannt, dass 800 Männer bezahlt haben sollen, um an Universitäten aufgenommen zu werden. Und damit einer Einberufung entkommen wollten.
Dasha: In Russland werden die Gesetze schnell mal umgeschrieben oder einfach nicht eingehalten. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in unserem Land sicher ist.
Das heisst, reiche Familien können ihre Söhne eher vor der Front bewahren. Kann man der Mobilisierung sonst irgendwie entgehen?
Dasha: Einige meiner Freunde haben das Land verlassen und studieren vom Ausland aus weiter. Jedoch ist das Online-Angebot ihrer Uni begrenzt.
Sofia: Kurz nach der Mobilisierung haben 3’100 Studierende – Frauen und Männer – der renommierten Higher School of Economics in Moskau der Unileitung gedroht, das Studium abzubrechen, wenn diese keine Online-Lehre anbiete. Aber nicht nur, um ins Ausland zu ziehen, sondern auch, damit sie in ihre Heimatstädte zurückkehren können. Sie wollen in dieser schwierigen Situation bei ihren Familien sein. Doch die Wirtschaftshochschule lehnte den Antrag ab.
Angeblich wurden auch Dozenten eingezogen. Ist das an euren Unis auch passiert?
Dasha: Glücklicherweise nicht. Einige von ihnen sind aber ins Ausland geflüchtet und halten von dort aus Online- Vorlesungen.
Sofia: Ich habe von einigen Fällen gehört, bei denen Professoren einen Einberufungsbefehl erhielten. Ich weiss nicht, was mit ihnen geschehen ist.
Das klingt belastend. Wie ist die Atmosphäre an der Universität? Spricht man über den Krieg?
Dasha: Die Stimmung ist sehr angespannt und der Krieg dominiert alle Gespräche. Die Meinungen gehen auch oft auseinander.
Alyona: Die Dozierenden sprechen nicht wirklich darüber, und das ist auch kein Wunder: Sie dürfen sich nicht zur Politik äussern – das gilt auch für uns Studierende. Aber natürlich sprechen wir untereinander trotzdem über den Krieg.
Sofia: Aber in der Öffentlichkeit reden die Menschen anders als im Privaten, denn es ist gefährlich, den Krieg offen zu kritisieren. Unter vier Augen wird jedoch klar, dass die Angst dominiert. Niemand hat damit gerechnet, dass so etwas passieren würde.
Als Frauen seid ihr von einer Einberufung ausgeschlossen. Wirkt sich der Krieg trotzdem auf eure Ausbildung aus?
Dasha: Ja, ich mache mir Sorgen, dass Russland bis zu meinem Bachelorabschluss seine Grenzen schliesst und ich das Land nicht mehr verlassen kann. Oder dass russische Studierende an europäischen Universitäten nicht mehr angenommen werden.
Alyona: Die russische Regierung unternimmt nämlich wirklich alles, um sich vom Westen abzugrenzen. Ich bin mir daher nicht mehr sicher, ob mein Abschluss weiterhin international anerkannt werden wird. Eigentlich hatte ich ebenfalls vor, mein Studium im Ausland fortzusetzen.
Hat sich euer Alltag seit dem Angriffskrieg auch sonst verändert?
Dasha: Auf jeden Fall! Viele internationale Online-Plattformen funktionieren in Russland nicht mehr. Zum Beispiel die US-Bildungsplattform Coursera, die extracurriculare Kurse für Studierende auf der ganzen Welt anbietet. Auch das Microsoft-Office-Angebot für Studierende ist nicht mehr verfügbar und viele westliche Geschäfte, wie Ikea oder Starbucks, wurden aus Russland abgezogen.
Alyona: Natürlich spüre ich die Sanktionen in meinem Alltag. Aber ist das überhaupt erwähnenswert? Das sind so kleine Sorgen im Vergleich zu dem, was die Menschen im Krieg durchmachen müssen.
Seit der Teilmobilisierung spricht man von einem Stimmungswandel in der russischen Bevölkerung. Viele haben genug vom Krieg. Macht sich das auch unter Studierenden bemerkbar?
Dasha: Ich habe den Eindruck, dass die meisten Studis gegen Putins Angriffskrieg sind. Ich kenne zwar auch junge Leute, welche die «Spezialoperation» unterstützen, aber nach der Mobilisierung wurde deren Anteil viel kleiner.
Alyona: Diesen Eindruck habe ich auch. Ich kenne einige Studierende, die bei Protesten festgenommen wurden. Andere organisierten sogar Soli-Partys für die Ukraine. Es war auch ein stiller Protest an meiner Uni geplant, der aber von der Unileitung wegen des Verbots von «politischer Propaganda» verhindert wurde. Immerhin wurden die beteiligten Studierenden nicht von der Uni verwiesen.
An den Universitäten scheint sich also Widerstand zu regen. Wie würdet ihr die allgemeine Atmosphäre in Russland beschreiben?
Dasha: Es herrscht allgemeine Panik. Viele Söhne und Ehemänner sind bereits an der Front. Einige sind gefallen, und der Sarg mit ihren Leichen wurde an die Verwandten geschickt. Andere sind im Ausland, weit entfernt von ihren Familien – und wissen nicht, ob sie jemals zurückkehren werden!
Alyona: Die Stimmung ist angespannt. Im Jahr 2014 waren die Menschen euphorisch und als Nation vereint, sie unterstützten die Annexion der Halbinsel Krim. Heute werden Rekrutierungsbüros mit Molotow-Cocktails angegriffen und im Gebiet Irkutsk wurde sogar ein Einberufungsbeamter erschossen. Diesen Wahnsinn jeden Tag ertragen zu müssen, ist belastend.
Was sollten unsere Leser*innen in der Schweiz wissen?
Dasha: Ich möchte nur, dass alle verstehen, dass die Menschen in Russland auch Opfer sind. Wir wollen diesen Krieg nicht. Natürlich gibt es Leute, die Putin unterstützen und die Propaganda ist omnipräsent. Ich möchte auch betonen, dass es in Russland sehr schwierig ist, zu protestieren, die eigene Meinung zu äussern und an Kundgebungen teilzunehmen. Man wird einfach verprügelt, zu einer Geldstrafe verurteilt oder gar für 15 Tage ins Gefängnis gesteckt. Aus diesem Grund gehen nur wenige Menschen auf die Strasse.
Alyona: Manche Leute glauben, dass Sanktionen gegen Russland die Bevölkerung motivieren könnten, sich gegen das System zu erheben. Aber Sanktionen unterstützen eben auch die Regierungsrhetorik, die den angeblichen Hass des Westens auf die Russ*innen propagiert – den Versuch des Westens, «Russland in die Knie zu zwingen». Sie können die Menschen meiner Wahrnehmung nach gar dazu ermutigen, sich gegen «die äusseren Feinde» zu verbünden. Auch ich wäre leider fast auf dieses Narrativ reingefallen.
Sofia: Die russische Regierung ist der Feind, nicht das russische Volk! Wir haben uns diese Regierung nicht ausgesucht und haben keine Mittel, um uns gegen ihre Entscheidungen zu wehren.