Sadaf Sedighzadeh war auch dabei: Am 6. Oktober versammelten sich im Lichthof der Universität Zürich knapp 40 Personen, fast ausschliesslich Studierende, zu einem «Solidaritätsmittagessen», um sich mit den Protesten in Iran zu solidarisieren. Carlo Mariani

Für alle Jîna Mahsa Aminis dieser Welt, die einfach nur leben wollen

Die Proteste in Iran halten an. Was mich als Iranerin bewegt, wie ich mich mit den Unterdrückten in meiner Heimat solidarisiere und was Universität und ETH Zürich angesichts der aktuellen Situation tun sollten.

28. Oktober 2022

Während in der Heimat meiner Eltern von Revolution die Rede war, während Kopftücher und Polizeiautos brannten, sass ich in der «Kleinen Freiheit» und haderte immer noch mit der Entscheidung, meinen Namen und mein Gesicht in einem Artikel in der NZZ abdrucken zu lassen. Denn Botschaftsangestellte und im Ausland lebende Regierungsanhänger*innen können in der Schweiz nach wie vor ungehindert schalten und walten. Ihre Gelder horten sie wahrscheinlich auf Schweizer Bankkonten. An Kundgebungen sind ihre Blicke zielstrebig auf potenzielle Staatsfeind*innen gerichtet, und sie haben bestimmt auch die NZZ abonniert. Die Entscheidung für das Interview heisst für mich, wahrscheinlich nie wieder meine Familie im Iran besuchen zu können. Entwurzelt zu sein, ist nicht mehr nur ein Gefühl: Es manifestiert sich in den juristischen Problemen und der politischen Verfolgung, die mich erwarten, sobald meine Füsse den Boden berühren, auf dem meine Eltern einst ihr Zuhause aufbauen wollten.

Auseinandergerissene Familie

Mein Gesicht erschien schlussendlich auf der Titelseite. Doch meiner Ansicht nach gebührt der Platz anderen Tatsachen. Der Tatsache zum Beispiel, dass Mahsa Aminis Name eigentlich Jîna ist, ein kurdischer Name. Ein Name, der dem iranischen Regime ein Dorn im Auge ist. Weil Minderheiten, Frauen, nicht der Staatsideologie entsprechende Identitäten dem Regime ein Dorn im Auge sind. Und ja, wie mich die NZZ zitierte, «d Lüüt hend fucking d Schnurre volle» von dem misogynen System, von einer zu Tode sanktionierten Wirtschaft. Sie haben die Schnauze voll von der Zensur und Bekannten, die plötzlich verschwinden. Sie haben die Schnauze voll vom Mullah-Regime und sie haben die Schnauze voll, nicht gehört zu werden, nicht zu Wort zu kommen.

Was ich für den NZZ-Artikel riskiert habe, ist nichts im Vergleich dazu, was junge Menschen in Iran tagtäglich für ein normales Leben riskieren: ihre Existenz. Ein Leben, welches sich meine Altersgenoss*innen in Iran über VPNs, TikTok, Instagram oder Twitter vor Augen führen lassen, mit dem Wissen, dass es über 40 Jahre lang nie freie Meinungsäusserung gab, keine Gleichstellung, keine Gerechtigkeit sondern nur ein System, welches sich mit Gewalt aufrechterhält. Meine Freund*innen in Iran leben als Kinder einer gescheiterten Revolution, ihre Biografien sind gezeichnet von der Geschichte eines Landes, dessen Regime die Menschenrechte mit Füssen tritt und Familien auseinanderreisst. Der Zufall wollte es, dass ich Teil einer ebensolchen auseinandergerissenen Familie wurde.

In Gedanken woanders

Während dieser Zeit Teil einer solchen Familie zu sein, heisst neben Hoffen und Bangen auch, sich Gedanken um den Begriff «Heimat» zu machen. Für mich war Heimat immer das, was man daraus macht. Im Verlauf meines Lebens wurde mir aber klar, dass mir gewisse Gestaltungsmöglichkeiten verwehrt blieben. Egal wie daheim ich mich gefühlt habe in der Schweiz, Bemerkungen wie «Oh, das ist aber ein spezieller Name!» musste ich mir oft anhören. Sie haben mir immer wieder das Gefühl gegeben, dass ich hier eigentlich nicht zuhause bin. Andersrum habe ich es nie geschafft, eine enge Beziehung zu meiner näheren Verwandtschaft in Iran aufzubauen, aus dem einfachen Grund, dass ich sie nur etwa drei Mal in meinem Leben sehen konnte.

Die Internetsperren in Iran und die damit einhergehende Funkstille sind wie Sandkörner, die einem ständig ins Gesicht peitschen und die man immer wieder aus den Augen wischen muss.

In der aktuellen Situation wünsche ich mir nichts sehnlicher als den Kontakt zu ihnen. Die Gewissheit, dass es ihnen gut geht, dass sie leben. Die immer wiederkehrenden Internetsperren und die damit einhergehende ein bis zwei Tage Funkstille sind wie Sandkörner, die einem ständig ins Gesicht peitschen und die man immer wieder mühsam aus den Augen wischen muss. Tagsüber versuche ich so gut es geht, den Uni-Alltag zu meistern. In Gedanken bin ich aber in Isfahan, Sanandaj, Zahedan, an der Sharif Universität, bei den streikenden Industriearbeiter*innen und den jungen Menschen, die so aussehen wie ich und die Sprache sprechen, mit der ich aufgewachsen bin.

Gemeinsame Momente mit der Diaspora helfen

Meistens schaffe ich es keine zwanzig Minuten, ohne Twitter zu öffnen, nach neuen Artikeln zu suchen, und schliesslich von den mir vorgeschlagenen Videos schockiert zu werden. Abends, wenn ich müde von der Arbeit nach Hause komme, wage ich es kaum, mich schlafen zu legen. Zu wertvoll wäre das, was ich auf Twitter über die mutigen Menschen vor Ort hätte erfahren können. Ihren Austausch und ihre Organisation in diesem historischen Moment, ihre Wünsche und Forderungen. Manche Nächte in diesen virtuellen «Spaces» wirken so, als sei der Sturz des Regimes in greifbarer Nähe. Lieber bin ich vier Wochen lang übermüdet und wie auf Nadeln sitzend, als dass ich die Revolution verpasse.

Die Wochen seit Beginn der Proteste waren für mich geprägt von Vorwürfen: Wieso ist mein Farsi so schlecht? Wieso war ich nicht öfter in Iran? Wieso habe ich diesen Teil meines Lebens so lange nicht genug geschätzt? Diese Vorwürfe lähmen. Doch die gemeinsamen Momente mit der Diaspora und das Wissen, dass ich nicht die Einzige bin, die so fühlt, geben mir die Kraft, mich aus dieser Lähmung zu befreien.

Uni und ETH machen zu wenig

Es geht auch darum, wie wir als Schweizer Gesellschaft in bestimmten Momenten der Geschichte handeln. In den letzten paar Wochen wurde der Ruf nach Solidarität mit den Protesten im Iran immer lauter. Doch blosse Solidarität reicht nicht, es braucht konkrete Unterstützung. Es braucht eine Stimmung, die dem Regime in Iran klar macht, dass es in der Schweiz nicht willkommen ist – auch wenn es schwierig werden sollte, die Macht aufrechtzuerhalten. Es braucht die Einfrierung der Gelder iranischer Eliten im Ausland. Es braucht neue demokratisch gewählte Diplomat*innen in den iranischen Botschaften dieser Welt. Es braucht die Verurteilung und Verfolgung derer, die von diesem System profitieren, die direkt oder indirekt korrumpieren, unterdrücken, morden. Es braucht ein Ende der Ausschaffungen nach Iran, denn der Iran ist seit über vierzig Jahren kein sicheres Herkunftsland mehr. Es braucht ein Ende der Atomabkommen und es braucht eine scharfe Verurteilung der Repression seitens der Schweiz. Die Schweiz hat für Iraner*innen aus historischer Prägung grosse Bedeutung, denn viele wichtige Figuren in der Geschichte Irans hatten in irgendeiner Art und Weise mit der Schweiz zu tun.

Während wir alle daran arbeiteten, uns in irgendeiner Form solidarisch zu zeigen, schwiegen Uni und ETH weiter.

Auch die ETH Zürich und die Universität Zürich haben viel zu lange viel zu wenig gemacht. Ich weiss noch genau, wie das in den ersten paar Wochen war. Das Semester hatte erst gerade begonnen, ich sass am Abend wieder auf meinem Sitzsack, hörte einem Twitter-«Space» zu, in dem Studierende der Sharif Universität berichteten. Ich dachte mir, das darf nicht so weitergehen, man kann da nicht tatenlos zusehen. In diesem Moment war ich dankbar um die VSUZH-Fraktion kriPo und das Studierendenplenum, denn woanders hätte ich keine Unterstützung gefunden. Während wir Solidaritätsanlässe, Infoveranstaltungen und Ähnliches planten, kam seitens der Uni erstmal nichts. Während wir alle arbeiteten, um Wege zu finden, mit denen wir uns in irgendeiner Form solidarisch zeigen konnten, schwiegen Uni und ETH weiter. Als sei nicht gerade eine der führenden technischen Universitäten im Nahen Osten von einem erbarmungslosen Regime angegriffen worden. Dann folgte endlich ein Statement der ETH bezüglich der Geschehnisse im Iran. Darin bot man betroffenen Studierenden psychologische Hilfe an und erklärte, dass man mit anderen Universitäten im Gespräch über mögliche Ad-hoc-Massnahmen und ähnliche Mitteln sei. Ein Tag später veröffentlichte die Universität Zürich fast das gleiche Statement.

Viel mehr Menschen müssen sich zum Thema äussern

Das war Anfang Oktober, seither ist nichts passiert. Dieses Verhalten wirkt auf mich eher wie eine PR-Aktion als ernstgemeinte Solidarität. Was ich mir jetzt von meiner Unileitung wünsche, sind Updates zu diesen vermeintlichen Gesprächen, ein Verhalten, was der humanitären Notlage in Iran entspricht. Ich wünsche mir von meiner Universität, dass sie sich so verhält, als ob sie die Situation in Iran betreffen würde. Denn das tut sie auch: Alleine schon all die iranischstämmigen Dozierenden, Mitarbeitenden und Studierenden, seien es nun solche der zweiten Generation wie ich, oder Iraner*innen, die in Iran aufgewachsen sind. Wir alle sind Teil dieser Hochschule. Unsere Existenz prägt die Schweiz, ob sie das will oder nicht. Es ist eine Tatsache. Und es braucht seitens der Schweiz ein Verhalten, welches dem gerecht wird.

Vor allem braucht es aber viel mehr Menschen, die sich zu einem Thema nicht erst äussern, wenn sie persönlich davon betroffen sind, sondern aus der Überzeugung heraus, sich für Gerechtigkeit und die Selbstbestimmung der Menschen einzusetzen. Für all die Jîna Mahsa Aminis dieser Welt, die einfach nur leben wollen.

Über die Autorin

Sadaf Sedighzadeh studiert an der Universität Zürich Geschichte. Ihre Eltern flüchteten vom Iran in die Schweiz, als sie zwei Jahre alt war.