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Der globale Norden soll zahlen

In Südamerika leidet die Bevölkerung unter den Folgen der Klimakatastrophe. Aktivist*innen wollen die Verantwortlichen zur Kasse bitten.

28. Oktober 2022

«La deuda es con el Sur» malten am vergangenen Freitag argentinische Demonstrat*innen auf Pappschilder und Bettlaken. In Buenos Aires demonstrierten sie dafür, dass der globale Norden seine Schulden begleiche und den ärmeren, südlichen Staaten finanziell durch die Klimakrise helfe. Dass Schwellenländer wie Argentinien finanzielle Unterstützung brauchen, ist offensichtlich. Doch wieso sollen Europa und Nordamerika dem Land etwas schulden, wenn Argentinien selbst wie viele andere Staaten des globalen Südens hoch verschuldet ist? 

Sümpfe abbrennen für Fleischproduktion

2018 hat die damalige argentinische Regierung unter dem rechten Präsidenten Maricio Macri ein 57 Milliarden Dollar schweres Darlehen vom internationalen Währungsfond (IWF) akzeptiert – das 21. in der Geschichte des Landes. Dies allerdings gegen den Willen eines Grossteils der Bevölkerung: Viele Argentinier*innen machen die Politik des IWFs für die Finanzkrise 2001 verantwortlich und sogar der IWF selbst gesteht zentrale Fehler ein. 2022 kämpft Argentinien so mit einer massiven Inflation und dem Abzahlen von Schulden. Unter diesen Umständen bleiben kaum Ressourcen, um auf grüne Technologien umzustellen und sich auf die Folgen des Klimawandels einzustellen.

Dabei wäre beides dringend nötig: «In Argentinien sind die Folgen der Klimakatastrophe schon deutlich spürbar», erzählt die Jus-Studentin und Aktivistin von Fridays for Future Argentina Sofia Vergara am Telefon. «Im Januar hatten wir nicht nur einen Rekord-Hitzesommer, sondern auch verheerende Brände in den Sumpf- und Waldgebieten.» Allein im vergangenen Sommer hat das Feuer eine Fläche von mehr als einer Million Fussballfeldern zerstört. Doch diese Brände lassen sich nur teilweise durch Umweltfaktoren wie die immer häufiger werdenden Hitzeperioden und Dürren erklären. Umweltorganisationen wie Greenpeace vermuten, dass viele ausser Kontrolle geratene Brände absichtlich gelegt wurden, um in der Wildnis Platz für die Landwirtschaft zu schaffen. Wichtige Produkte der argentinischen Agrikultur sind die Viehzucht und das Soja – das zu 70 Prozent als Futtermittel für die Tiere bestimmt ist. Auch die Schweizer Fleischproduktion ist von ausländischer Sojaproduktion abhängig. Laut Greenpeace fressen die Schweizer Nutztiere so viel ausländisches Soja wie auf einer Fläche von 400’000 Fussballfeldern wächst. 

Der IWF soll die Schulden erlassen

Somit versorgt Argentinien wie viele andere Länder des globalen Südens den Norden mit Lebensmittel und Rohstoffen – während die Natur und die einheimische Bevölkerung Schaden nimmt. «Der Staat hat die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Grundrechte eingehalten werden», hält Sofia Vergara fest. Dennoch sieht sie einen Teil der Verantwortung bei den profitierenden Konzernen. «Internationale Firmen machen in Argentinien Dinge, die sie ‹zuhause› nie machen würden.» Tatsächlich sind internationale Grosskonzerne bei der Sojaproduktion stark vertreten: 90 Prozent der exportierten Ernte wird von nur zehn Firmen produziert und mehr als zwei Drittel davon gehören Firmen mit Sitz in den USA, Europa oder China. Für diesen Profit und die Umstände, unter denen er erzeugt wird, möchte Vergara die nördlichen Länder nun zur finanziellen Verantwortung ziehen. 

Mit dieser Haltung ist sie und sind die anderen demonstrierenden Gruppen in Argentinien nicht allein: Unter dem Stichwort «Climate Debt» kämpfen Aktivist*innen auf der ganzen Welt dafür, dass Staaten des globalen Südens Schulden erlassen werden – etwa Argentiniens Schulden an den IWF. Den IWF einfach nicht zurückzuzahlen wäre hingegen ein grosses Risiko: Es drohen der Ausschluss vom Weltmarkt und der Verlust möglicher Kreditpartner*innen. Deshalb fordern Aktivist*innen, dass der IWF die Schulden offiziell erlässt. 

Finanzielle Kompensation fordern Klima-Aktivist*innen nicht nur für heutige Ereignisse. Viele, wie beispielsweise Fridays for Future Peru, verweisen auf die historische Kolonisation, die durch Ausbeutung der Rohstoffe und Versklavung die europäischen Staatskassen gefüllt hat. Zur Illustration: Im 16. Jahrhundert

Die reichsten zehn Prozent verursachen fünfzig Prozent der Emissionen.

begann das spanische Imperium damit, indigene Zwangsarbeiter*innen einzusetzen, um im Cerro Rico in Bolivien Silber zu fördern. Bis ins 18. Jahrhundert hinein stammten 80 Prozent des Silbers im weltweiten Umlauf aus dieser einen Mine. 

Ungerecht finden viele auch, dass reiche Länder mehr Treibhausgas-Emissionen verursachen als arme Länder: Die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung sind für mehr als 50 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich. Gleichzeitig leiden die Länder des globalen Südens häufig schneller und stärker unter der Klimakrise: Weil ihnen die Ressourcen für die Umstellung fehlen, weil sie mehr von Landwirtschaft und natürlichen Ressourcen abhängig sind oder weil sie in Regionen liegen, die besonders heftig betroffen sind. 

Auch im Amazonas-Regenwald in Bolivien ist der Klimawandel bereits spürbar. In der nördlichsten Provinz Pando sind Paranüsse das wichtigste Exportgut. Doch die unvorhersehbaren Wetterphänomene haben den Handel mit Paranüssen zu einem riskanten Geschäft gemacht. Die bolivianische Hilfsorganisation «Aceaa» unterstützt die Paranuss-Produzent*innen dabei, sich an die neue Situation anzupassen, indem sie beispielsweise neue Einnahmequellen erforscht. «Ausserhalb der Paranuss-Saison wachsen die Acai-Beeren auf Palmen. Wir zeigen den Sammler*innen, wie sie diese gewinnbringend und sicher ernten können», berichtet Liliana Lorini, Koordinatorin des Bereichs Gesellschaftsentwicklung bei «Aceaa». Um die Acai-Beeren zu pflücken, klettern in Bolivien Sammler*innen auf 25 Meter hohe, wild wachsenden Palmen. Diese Methode bringt offensichtliche Schwierigkeiten mit sich, doch auch einen grossen Vorteil: Der Wald wird sich selbst überlassen. Weil auch die Paranuss wild wächst und vom Waldboden aufgesammelt wird, wurde in der Provinz kaum gerodet. «Pando ist wie eine grüne Insel in einer bereits stark zerstörten Region», so Lorini. 

Indigene schützen den Wald am besten

Unterstützung für die lokale Gemeinschaft geht hier also Hand in Hand mit Naturschutz. Das lässt sich auch auf einer höheren Ebene beobachten: In Amazonas-Gebieten, die von indigenen Gemeinschaften geführt werden, wurde bisher zehnmal weniger Wald zerstört als in Gebieten, die nicht unter indigener Kontrolle stehen. Damit ist der Wald in  indigenen Territorien ähnlich gut geschützt wie in Naturschutzgebiete

Auch für Fridays for Future Argentina spielt die Gemeinschaft eine grosse Rolle – wenn vielleicht auf eine andere Weise. Vom 19. bis zum 21. Oktober fand in Buenos Aires ein internationales Treffen von Bürgermeister*innen für nachhaltigere Städte statt. Von diesem Treffen erhofft sich Vergara wenig: «Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele der brennendsten Probleme ungelöst bleiben.» Umso mehr freut sie sich dagegen auf die Fridays-for-Future-Aktivist*innen, die sich in der Hauptstadt versammeln werden. Gemeinsam wollen sie für Klimagerechtigkeit und grünere Städte protestieren. «Die Freundschaft mit anderen Aktivist*innen und das Engagement von so vielen Leuten zu sehen, ist das, was mir am meisten Mut macht.»