«6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit»

Kulturreportage — In Sils Maria schrieb Friedrich Nietzsche seine wichtigsten Werke. Ein Besuch.

Kai Vogt (Text und Bilder)
28. Oktober 2022

In den Alpen fühle ich mich schnell eingeengt, aber hier ist es anders: meerblaue Seen auf einer weiten Hochebene, ringsum raue Bergketten mit schneebedeckten Gipfeln, darunter von der Jahreszeit rötlich gefärbte Wälder, der Himmel ganz nah. In dieser Gegend wanderte der Philosoph Friedrich Nietzsche tagelang denkend umher und machte sich Notizen. Seine Ideen arbeitete er nachts in Schreibbüchern aus, in einem einfachen Gasthaus in Sils Maria im Engadin. Dieses wurde bis heute authentisch erhalten und dient seit 1960 als Denkmal, Museum, Wohn- und Begegnungsstätte. Für manche ist es sogar ein Pilgerort. Das möchte ich verstehen.

«Er hat stets die Dunkelheit gesucht»

Ich trete ein und es knarzt unter den Sohlen, ein holziger Geruch erfüllt den Raum. Es ist kühl. Peter Villwock, Kustos des Nietzsche-Hauses, macht sich noch einen Tee, bevor er sich mir gegenüber setzt. Seit 15 Jahren wohnt und arbeitet er hier als Gastgeber. Wenn er von Nietzsche erzählt, klingt es fast so, als spräche er von einem alten Freund: «Um das Jahr 1880 war Nietzsche wohnsitzlos, ist in Europa herumgereist und an Orten geblieben, wo es ihm weniger schlecht ging als anderswo. Er war sehr krank. Das war auch der Grund, weshalb er hierhergekommen ist.» Der studierte Philologe litt unter starker Migräne. Wegen seiner Erkrankung hat er die Professur in Basel, die er bereits mit 24 Jahren erhalten hatte, zehn Jahre danach wieder aufgeben müssen.

In Sils fühlte er körperliche Erleichterung. Die Landschaft entsprach ihm bis aufs Innerste: «Der Ort, wo ich einmal sterben will», schrieb er 1883, und kehrte als Sommergast jahrelang immer wieder zurück. Er bezeichnete die Natur im Oberengadin als «heroisch-idyllisch». «Die Idylle kann man sich gut vorstellen, wenn die Sonne scheint. Wenn es aber schlechtes Wetter ist und man zu den Bergspitzen hochschaut, dann merkt man, wie lebensfeindlich es hier sein kann», so Villwock. Die Spannung zwischen heroisch und idyllisch sei Nietzsches Lebensideal gewesen, auch charakterlich.

Wenn Nietzsche nicht krank war, schrieb er, rund um die Uhr. Dementsprechend viele Werke sind hier entstanden – Werke, welche das intellektuelle Europa massgebend geprägt haben, darunter «Die fröhliche Wissenschaft» und «Also sprach Zarathustra». Diese wurden etliche Male rezipiert und sind heute weltberühmt. In Anbetracht dieser Grösse wirkt das Haus, aber besonders sein Zimmer klein, bescheiden und unbedeutend. Tiefe Decken, ein kurzes Bett, wenig Licht. «Es ist das dunkelste Zimmer im dunkelsten Haus in Sils und er klagte immer noch darüber, dass es zu hell sei. Nietzsche hatte grosse Augenprobleme und hat stets die Dunkelheit gesucht», erzählt Villwock. Und doch passt das Zimmer zu seiner Philosophie, die aus einer Einsamkeit und Weltfremdheit entstand. Er litt darunter, zu Lebzeiten nicht wahrgenommen worden zu sein, und rechnete gleichzeitig damit, erst in hundert Jahren nach seinem Tod verstanden zu werden. Ob das heute der Fall ist? Bemerkenswert ist jedenfalls, dass sogar Fans aus Japan oder Australien herreisen. Einige würden dann im Nietzsche-Zimmer eine heilige Stätte sehen, wo sie stundenlang meditierten, so Villwock.

Missverstanden und missbraucht

Neben seinem Zimmer gibt es drei Ausstellungsräume, die durch verschiedene Stationen seines Lebens führen. Es sind viele Originale zu sehen, meistens sind es Briefe und Widmungsexemplare seiner Bücher. Auch eine Büste vom schnauzbärtigen Mann gibt es, die einzige, die während seiner Lebzeit von ihm angefertigt wurde. Ich bleibe bei den Totenmasken hängen, von denen ungewöhnlicherweise zwei existieren. Die zweite liess Elisabeth Förster-Nietzsche im Nachhinein anfertigen, weil ihr die ursprüngliche zu wenig «eindrucksvoll» erschien. Die Schwester ist bekannt dafür, dass sie alles tat, um Nietzsche nach seinem Tod zu Ruhm zu verhelfen. Heute wird sie wegen ihrer Fälschungen und Umdeutungen dafür verantwortlich gemacht, dass Nietzsche vom National-sozialismus missbraucht wurde. Besonders die Idee des Übermenschen wurde von den Nazis aufgegriffen und als Rassenlehre fehlinterpretiert. Dabei geht es eigentlich um die lebensbejahende Idee, als Mensch über sich hinauszuwachsen.

Die Anbindung zur Uni hat Tadition

Ihn aber stets richtig zu verstehen, scheint mir dennoch unmöglich. Man bekommt ihn nie ganz zu fassen, was es leichter macht, ihn für Ideologien zu missbrauchen. «Man kann die Dinge bei Nietzsche schlecht aus dem Zusammenhang reissen. Sonst klingt es so, als würde er sich dauernd widersprechen», sagt Katia Saporiti, Philosophieprofessorin an der Uni Zürich und im Stiftungsrat des Nietzsche-Hauses tätig.

Der Stiftungsrat kümmert sich um das Haus und organisiert Veranstaltungen, zum Beispiel das jährlich stattfindende Nietzsche-Kolloquium in Sils. Dort kommen Expert*innen, Studierende und Interessierte zusammen, um mehrere Tage lang ein Thema von Nietzsche zu vertiefen. Die Verbindung zu den Universitäten hat Tradition: «Es wird hier gewünscht, dass immer jemand von der Uni Zürich und von der Uni Basel im Stiftungsrat vertreten ist», sagt Saporiti. Somit sei die Anbindung an die Studierenden, die sich für Nietzsche interessieren, gegeben. Die Philosophin bot bis zu Beginn der Pandemie mit der Literaturprofessorin Barbara Naumann ein Seminar an, bei dem der Besuch des Kolloquiums fester Bestandteil war. Das werde bestimmt zurückkommen, versicherte sie. Einige Studierende übernachten dann im Haus in den wenigen Zimmern, die das ganze Jahr über vermietet werden. Die Preise sind vergleichsweise günstig, bleiben kann man höchstens drei Wochen am Stück.

Sieben Sommer (1881 und 1883-1888) verbrachte Friedrich Nietzsche in diesem Haus, das im Ortskern von Sils Maria steht.

Frauen- und judenfeindlich

Ich lasse das Haus hinter mir und spaziere bei sinkender Sonne um den Silvaplanersee, wo Nietzsche eingebungshaft «6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit» den Gedanken der ewigen Wiederkunft gefasst hat. Sogar der genaue Ort, wo ihm der Gedanke kam, ist bekannt – ein pyramidaler Stein, der von Nietzsche-Fanatiker*innen als Heilige Stätte verehrt wird. Nach dieser Idee wiederholen sich alle Ereignisse der Welt unendlich oft. «In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit», heisst es im «Zarathustra». Das ist weder einfach noch klar, seine Philosophie folgt keinem System. Es gehe ihm, nebst dem genau richtigen, oft auch um den ästhetisch überzeugenden Ausdruck eines Gedankens, so Saporiti. «Er war ein absoluter Sprachkünstler.» Trotzdem stehe sie dem Autor ambivalent gegenüber: «Manchmal lese ich ihn sehr gerne, manchmal mag ich ihn überhaupt nicht leiden.» Das habe auch mit seinen abfälligen Äusserungen gegenüber bestimmten Gruppen zu tun. So werden an gewissen Stellen seines Werks Frauen aufs höchste diskriminiert, aber auch Juden, Angehörige verschiedenster Nationen und Berufsgruppen. Wie sie denn mit diesen schwierigen Passagen umgehe? «Ich gehe gar nicht mit den ‹schwierigen› Stellen um. Ich finde sie auch weniger schwierig als einfach nur grässlich und furchtbar. Aber man darf ihr Vorkommen nicht verschweigen», so Saporiti. Dennoch käme es der Philosophin nie in den Sinn, einen historischen Autor nur wegen einzelnen Äusserungen nicht zu lesen.

Pilgerstätte für Intellektuelle

Vieles in seinen Werken provoziert. Und ein bitterer Nachgeschmack bleibt. «Nietzsche ist sehr widersprüchlich. Er selbst sagt auch, dass er keine Lehre vermittelt. Zarathustra sagt zu seinen Jüngern: ‹Erst wenn ihr mich alle verleugnet habt, komme ich wieder, dann habt ihr mich verstanden.› Einfach Nietzsche nachbeten funktioniert nicht», so Villwock. Vom Silvaplanersee schlendere ich noch zur Halbinsel Chastè, einem Ort, dessen Schönheit fast schon kitschig ist. Es war der Lieblingsort Nietzsches, hier wollte er begraben werden. Doch er liegt heute in Röcken, seinem Geburtsort. Der Philosoph starb 1900 im Alter von 55 Jahren, mehr als die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte er in geistiger Umnachtung. Die Verwirrung, das Kranke und Einsame seiner Person zeichnen ein tragisches Bild. «Mit sieben Jahren wusste ich bereits, dass mich nie ein menschliches Wort erreichen wird», schrieb er pathetisch in «Ecce Homo». Und je später der Abend in Sils Maria wird, desto klarer zeigt sich dieses Bild Nietzsches auch in der schroffen, kalten Landschaft, in deren Weite man leicht verloren geht.

Ich gehe nochmals durch den Engadiner Ort, der nach Nietzsches Tod zu einem Zentrum für Intellektuelle geworden ist. Von Proust bis Dürrenmatt zu Anne- marie Schwarzenbach und Thomas Mann. Sogar Politiker*innen wie etwa Angela Merkel seien hier gewesen, meint Villwock. Ich schaue mir das Haus noch ein letztes Mal von aussen an. Die Sonne ist verschwunden, es liegt nun ganz im Schatten, darüber erhebt sich ein dunkler Wald. Das einstige Heim des Philosophen wirkt nun bedrückend, fast schon beängstigend – und es hinterlässt eine ungreifbare Ambivalenz, wie Nietzsche selbst.