Eine Reise durch den Ortega-Sozialismus
Der Tourismus in Nicaragua boomt. Das Land zieht Backpacker*innen dank seinen Stränden, den Vulkanen des pazifischen Feuerrings und den billigen Preisen an. Doch unter der idyllischen Oberfläche schlummert ein Konflikt, und die sozialistische Regierung der sandinistischen Partei kontrolliert die Bevölkerung.
Zum Tourismusprogramm in der kleinen Kolonialstadt Léon an Nicaraguas Westküste gehört ein Abstecher im «Museo de la Révolucion». Wir statten dem Museum der Revolution an einem Montagmorgen Ende August einen Besuch ab. Die zwei Ausstellungsräume sind heruntergekommen, die ausgestellten Bilder längst verblasst. Die «Frente Sandinista de la Liberación Nacional» (FSLN), die das Museum betreibt, scheint keine pompöse Inszenierung nötig zu haben: Die sozialistische Partei ist in Nicaragua seit rund vierzig Jahren an der Macht. Mangels Ausstellungsobjekten waren wir auf Margie, eine junge Frau Mitte 20, angewiesen, die uns durch die Geschichte des Bürgerkriegs der 1930er sowie der sozialistischen Revolution der 1980er Jahre führte. Gegen Ende der Tour frage ich Margie, ob sie selbst Parteimitglied sei. Sie verneint: «Ich arbeite als Freiwillige hier, weil ich einen Gefallen der Partei brauche.» Mein Reisebegleiter und ich horchen auf und haken nach, um was für einen Gefallen es sich handle? Doch erst oben auf dem Dach – ausser Hörweite der FSLN-Männer am Eingang – erzählte Margie, wie die Partei das Leben der Menschen in Nicaragua kontrolliere. Wer als Parteifreund*in gelte, erhält eine separate ID: das «Carnet militante». «Ohne Stempel hast du keinen Zugang zu Jobs und Wohnungen hier in der Stadt», erklärte Margie.
Ronald Reagan unterstützte die «Contras»
Ende 1970er Jahre stürzte die FSLN die Regierung des Diktators Anastasio Somoza Debayle und damit die gesamte Somoza-Dynastie, die Nicaragua seit den 1930er Jahren regiert hatte. Somoza antwortete gewaltsam und liess 5000 Zivilist*innen töten. Danach brach in Nicaragua zum zweiten Mal im 20. Jahrhundert ein Bürgerkrieg aus. Die USA stellte sich auf die Seite Somozas, die Sozialistische Internationale unterstützte die FSLN und deren Verbündete. Der Druck auf den Despoten Somoza stieg, als die umliegenden zentralamerikanischen Länder Sanktionen verhängten. Im Juli 1979 floh er in die USA, und ein Regierungsbündnis der FSLN trat an die Macht.
Doch in den 1980er Jahren kam das Land nicht zur Ruhe. Gruppen von sogenannten «Contras» – unter ihnen ehemalige Mitglieder der Nationalgarde Somozas – versuchten mit Terrorattacken auf Spitäler und Schulen die sozialistische Regierung der Sandinist*innen zu schwächen. Besonders brisant ist, dass Ronald Reagan die «Contras» mitfinanzierte, und zwar dank Waffenverkäufen in den Iran. Die USA machten sich so mitverantwortlich für den Tod von 60’000 Nicaraguaner*innen, die zwischen 1981 und 1990 im «Contra»-Krieg starben. Bereits 1986 verurteilte der Internationale Gerichtshof in Den Haag die USA deshalb zu einer Zahlung von 2.4 Milliarden Dollar, der das Land bis heute nicht nachgekommen ist.
Die FSLN ist auch für uns Tourist*innen omnipräsent
Für die Generation unserer Eltern ist es dieser Terror der 1980er Jahre, mit dem sie Nicaragua assoziieren. Das spürten wir im Vorfeld unserer Abreise: «Wollt ihr wirklich nach Nicaragua reisen?», fragten meine Eltern und deren Freund*innen. «Ist das nicht gefährlich?» In Gefahr fühlen wir uns während der drei Wochen in Nicaragua nie. Das «Gobierno de Reconciliación y Unidad Nacional», deutsch «die Regierung der Versöhnung und der nationalen Einheit», setzt auf den Tourismus. 2020 reisten 474‘000 Tourist*innen ein, der Tourismussektor machte knapp vier Prozent des BIP aus. Nicaraguas Westküste hat viel zu bieten: In San Juan del Sur und Popoyo tummeln sich die Surfer*innen an pittoresken Stränden. Auf der Insel Ometepe im Nicaraguasee finden Aussteiger*innen ihr Paradies. Die 19 Vulkane im Land, elf davon aktiv, ziehen Outdoor-Reisende an, die Parties in San Juan und Granada Schulabgänger*innen im Zwischenjahr. Wir treffen neben vielen Holländer*innen und Deutschen auch einige Schweizer*innen. Und die Backpacker*innen, die wir auf unseren Stopps vor Nicaragua trafen, empfahlen das Land als Destination: «Geht unbedingt nach Nicaragua!», tönte es von allen Seiten. «Es ist landschaftlich so eindrücklich wie Costa Rica, aber viel billiger. Und die Leute sind so freundlich!»
Leo, ein Philosophiestudent aus Léon, spricht vom Land der Kontraste. Er ist unser Guide auf einem Stadtrundgang in Léon und betont, dass Gräuel und Schönheit in Nicaragua nahe beieinanderlägen. Nicaragua biete Kultur, Literatur und landschaftliche Highlights, doch die blutige Geschichte des Landes schlummere nahe an der Oberfläche. Die FSLN ist auch für uns Tourist*innen omnipräsent: Am Strassenrand wehen alle zehn Meter rot-schwarze FSLN-Flaggen. Auf den Plätzen, an den Wänden, am Flughafen: Überall Statuen und sonstige Darstellungen von Augusto César Sandino, dem Namensgeber und Helden der sandinistischen Partei.
1990 wählte die Bevölkerung Nicaraguas zwar Violeta Barrios de Chamorro zur neuen Präsidentin, eine Vertreterin der Oppositionspartei «Unión Nacional Opositora». Sie übernahm die Präsidentschaft von Daniel Ortega, der ab 1979 an der Spitze einer sandinistischen Regierungsjunta stand und 1985 zum Staatspräsidenten gewählt worden war. Doch seit 2006 ist Ortega wieder an der Macht. Und obschon die FSLN von 1990 bis 2006 offiziell keine Präsident*innen stellte, sind sich Margie und Leo einig: De facto hatten die Sandinist*innen stets die Kontrolle. Die Vertreter*innen anderer Parteien hätten auch in den 2000er Jahren mit der FSLN zusammengearbeitet, die jedes Bündnis dominiere.
Nicaragua gehört nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt
Leos philosophische Ader dringt auf dem Stadtrundgang immer wieder durch: Er sagt, in jedem «Nica» – so lautet die Selbstbezeichnung der Nicaraguaner*innen – schlummere ein Vulkan, der jederzeit auszubrechen drohe. 2016 kam es landesweit zu Streiks und Scharmützeln zwischen Nationalgarde und Zivilbevölkerung. Schon vor der Corona-Pandemie konnten deshalb zeitweise keine Tourist*innen mehr einreisen. Der aufblühende Wirtschaftszweig steht auf einem wackligen Fundament. Und Hilfe von der Regierung gab es auch während der Pandemiejahre keine, wie uns Taxifahrer und Guides bestätigten. Stattdessen übte sich die Bevölkerung in Selbstversorgung und sattelte beruflich um. Der 28-jährige Aníbal etwa, der mit uns den Vulkan Concepción auf Ometepe besteigt, arbeitete die letzten zwei Jahren in der Schreinerei eines guten Freundes. Die Proteste im Jahr 2016 richteten sich gegen die Zusammenarbeit der FSLN mit ihrem Verbündeten China: Die Sandinisten hatten die Rechte für den Bau eines Kanals von Nicaraguas Pazifik- an die Atlantikküste an die chinesische Regierung verkauft.
Nach 2016 kam es in den grösseren Städten 2018 nochmals zu Ausschreitungen. Dort waren es vor allem die Studierenden, die gegen eine Reform des Sozialversicherungssystems protestierten. Margie und Leo sprechen wohl deshalb beide von einem Generationenkonflikt: Die jungen Leute seien unzufrieden und frustriert mit der FSLN. Zwar hat die sozialistische Regierung viel erreicht: Sie schaffte Schulgebühren ab, führte Alphabetisierungskampagnen und Agrarreformen durch und schuf ein kostenloses Gesundheitssystem. Aber Nicaragua gehört nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt: Ein Viertel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze und den Jungen fehlt es an Aufstiegschancen. Auf Ometepe erzählt ein Taxifahrer Mitte 30, dass er Elektrotechnik studiert habe. Doch in diesem Berufsfeld verdiente er zu wenig – und zog stattdessen ein eigenes Taxiunternehmen auf. Er lebe damit «ni bien, ni mal», weder gut, noch schlecht. Zurzeit wandern viele Nicaraguaner*innen aus, zum Beispiel ins wohlhabendere Nachbarland Costa Rica.
Nicaragua ist ein weiteres Land, in dem der Sozialismus real existiert, doch längst nicht mehr den Grundsätzen der Ideologie entspricht. Das Programm der FSLN bleibt zwar sozialistisch – im Gegensatz etwa zu China, das seit Jahren kapitalistische Marktreformen durchführt. Doch die Methoden der Regierung Ortegas ähneln denen eines totalitären Regimes. FSLN-Gruppen kontrollieren Dörfer und Stadtviertel, die Bevölkerung und ihr Tun werden konstant überwacht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem erneuten Coup kommt, sind sich Margie und Leo einig. Die blutige Geschichte Nicaraguas ist nicht zu Ende, auch wenn Regierung und Bevölkerung sie gut vor den Tourist*innen zu verstecken wissen.