Die Vertreter*innen von 29 europäischen Ländern unterzeichneten 1999 eine neue Hochschulreform. Lucie Reisinger

War es das Ganze wirklich wert?

Bei der Unterzeichnung der Bologna-Deklaration ahnte noch niemand, was auf die europäischen Hochschulen zukommen würde. Zeit für eine Bilanz.

21. September 2022

Früher war alles besser. Oder zumindest das Studium. Man hatte viele Freiheiten und konnte sich, ganz nach dem Humboldtschen Bildungsideal, im Freiraum der Universitäten bewegen, bilden, kritisch denken und frei die Luft des Wissens einatmen. Und dann kam das Monster Bologna. Die Reform, welche die europäische Hochschullandschaft umstürzte. So lautet das Klischee, das teils noch an den Universitäten kursiert. Wie kam es zur Reform und was hat sie tatsächlich bewirkt?

Die Geschichte beginnt 1998 in Paris, wo der französische Bildungsminister Claude Allègre anlässlich des 800-jährigen Jubiläums der Universität Sorbonne zusammen mit vier Amtskolleg*innen ein wegweisendes Dokument unterschreibt. Darin steht: «Man sollte nicht vergessen, dass Europa nicht nur das Europa des Euros, der Banken und der Wirtschaft ist; es muss auch ein Europa des Wissens sein.» Dort war auch erstmals von «zwei grossen Zyklen, Studium und Postgraduiertenstudium» und eines «Europäischen Programmes zur Anrechnung von Studienleistungen, ECTS» die Rede. Und abschliessend heisst es: «Wir verpflichten uns hiermit, uns für einen gemeinsamen Rahmen einzusetzen, um so die Anerkennung akademischer Abschlüsse im Ausland, die Mobilität der Studierenden sowie ihre Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt zu fördern.» Diese Sätze sollten dereinst die Bildungsstätten in ganz Europa beschäftigen und zehntausende Studierende auf die Strasse bringen.

Ein Jahr später wurde die noch wenig handfeste Absichtserklärung zu einem klaren Plan. Dort liegt auch der Ursprung der in Zeitungsberichten inflationär genutzten Symbolbildern zum Thema: Die rote Stadt mit den berühmten Arkaden, oder mit Spaghetti Bolognese gefüllte Teller. Denn in Bologna besiegelten am 19. Juni 1999 Vertreter*innen 29 europäischer Länder, darunter auch ein Schweizer Staatssekretär, die grosse Hochschulreform, worüber viel gestritten wurde und teilweise immer noch gestritten wird. Es war die Vision, den Bildungs- und Forschungsstandort Europa konkurrenzfähiger zu machen.

«Die ECTS sind die neue Währung»

Die Generation vor Bologna studierte in der Schweiz im Lizenziats- bzw. Diplom-System. Die Fächer des mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereichs vergaben Diplome, die anderen Lizentiate. Die Studiengänge dauerten in der Regel fünf bis sieben Jahre, ohne Studienzeitbegrenzung. Anstatt Kreditpunkte gab es Scheine, die es als Beleg für die Leistungsnachweise zu sammeln galt. Nach ein paar Jahren musste meist eine Zwischenprüfung absolviert werden, es folgten Qualifikationsarbeiten und Abschlussprüfungen.

In Bologna wurde entschieden, das alte System über den Haufen zu werfen und das angelsächsische Modell mit Bachelor- und Masterstufe einzuführen. Weitere Ziele der Bologna-Deklaration waren die Einführung leicht vergleichbarer Abschlüsse und eine höhere Mobilität von Studierenden, Dozierenden und Forschenden.

Die grösste Hürde für die Unis war die Einführung des dreistufigen Systems Bachelor-Master-Doktorat, denn dafür musste die Studienstruktur komplett umgekrempelt werden. Doch schon 2004 wurden in der Schweiz die ersten Bachelors vergeben und ab dem Herbstsemester 2009 begannen alle neuen Studierenden das Studium nach dem Bologna-Modell. Dazu kam die kleinteilige Modularisierung, wonach jeder Leistungsnachweis mit Kreditpunkten messbar gemacht wurde. Das stiess auf grosse Kritik. «Die ECTS sind die neue Währung», meint Monika Dommann, Historikerin an der Uni Zürich und von 2016 bis 2021 Programmdirektorin am Historischen Seminar: «Diese Währung  ist mittlerweile härter als der Schweizer Franken.»

Proteste in ganz Europa

Aus den Reihen der Kritiker*innen sind oft die Vorwürfe der Ökonomisierung oder der Verschulung zu hören. Vor allem wurde jedoch der Reformprozess selbst kritisiert. «Gewisse Studiengänge haben einfach nach drei Jahren den Bachelor vergeben und nach fünf Jahren den Master und sonst wenig geändert», erklärt Michael Hengartner, ETH-Ratspräsident und ehemaliger Rektor der Uni Zürich. «So hat man nur die negativen Auswirkungen von Bologna gespürt und nichts Positives, weil man sich nicht angepasst hat.» Anders als in den Geistes- und Sozialwissenschaften war aus den naturwissenschaftlichen Fakultäten in der Schweiz wenig Kritik hörbar. «Das hat damit zu tun, dass die Naturwissenschaften sehr verschult sind. Es gibt sehr viel Fachwissen, das man sich am Anfang aneignen muss: Wenn man die Grundlagen der Physik nicht hat, kann man gar keine Physik machen», stellt Hengartner fest. Wegen der klar strukturierten Studiengängen sei die Reform an der ETH auch wenig spürbar gewesen.

Doch an den philosophischen Fakultäten gab es viel Kritik. In ganz Europa bäumte sich Widerstand auf. Am Bildungsstreik in Deutschland, bei den Studierendenproteste in Österreich oder den Demonstrationen in Zürich wehrten sich Studierende gegen Bologna. Dennoch fanden 2015 an der Uni Zürich die letzten Lizentiats-Prüfungen der Schweiz statt.

Schon bald fand in der Schweiz eine Art Software-Update statt, wie es Hengartner nennt. Mit Bologna 2.0, an der Uni Zürich Bologna 2020 genannt, gingen die Universitäten einen Schritt weiter. So wurden an der Uni Zürich die kleinen Nebenfächer abgeschafft, die Studienstruktur etwas entschlackt, die Module grosszügiger gestaltet. Nun studiert man im Bachelor einheitlich einen Major und einen Minor à je 120 und 60 Kreditpunkten, und der Wechsel vom Haupt- ins Nebenfach ist einfacher geworden.

Doch Bologna ist ein Prozess und wird wahrscheinlich noch weitere Software-Updates brauchen. Aber welche der anfangs gesetzten Ziele wurden erreicht? Zur Mobilität: Zwar absolvieren etwa 20 Prozent der Studierenden ein Auslandsemester, doch ein Uniwechsel nach dem Bachelor bleibt selten. Auch die Inland-Mobilität ist bisher immer unter fünf Prozent geblieben. Hengartner beschwichtigt: «Die Schweizer*innen sind nicht so darauf erpicht, woanders in der Schweiz zu studieren. Wenn sie an einer guten Uni studieren, wo sie spannende Master im Angebot haben, warum sollten sie ihre WG verlassen und in einer anderen Stadt studieren?»

«Das heutige System ist für die Studis extrem belastend»
Seraina Campell, Co-Präsidentin der Schweizer Studierendenschaften (VSS)

Der Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS) kritisiert die verpassten Mobilitätsziele. Denn: «Zur Zeit der Einführung war der VSS für eine vereinfachte Mobilität innerhalb der Schweiz und Europa, welche das Bologna-System gewährleisten sollte», sagt Co-Präsidentin Seraina Campell. Doch in der Praxis bestehen noch immer Schwierigkeiten, teilweise auch innerhalb derselben Fächer. Oft werden bei einem Hochschulwechsel zusätzliche Auflagen gefordert oder Studierende müssen gewisse Kurse nachholen. Campell meint zudem, der Leistungsdruck der Studierenden sei durch Bologna nicht zurückgegangen: «Ein grosser Faktor ist Stress. Das jetzige System ist extrem belastend für die Studierenden.» Tatsächlich weist knapp ein Viertel der Studierenden Symptome von mittleren bis schweren Depressionen auf. Dies zeigt eine Studie des Bundesamtes für Statistik zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Studierenden aus dem Jahr 2020. Doch lässt sich das alles wirklich auf Bologna zurückführen?

Bolognese statt Bologna

Monika Dommann meint, es sei schwierig zu benennen, was wirklich auf Bologna zurückzuführen ist: «Das ist ein Henne-Ei-Problem. Man kann zwar nicht sagen, es gäbe eine Kausalität, aber irgendwie hängt es wohl zusammen. Die einzelnen Teile des Gefüges führen dazu, dass das Studium anders ist als früher.» Gut findet Dommann nun beispielsweise, dass man mit dem Bachelor schon früher einen Abschluss in der Hand hat. Anklang finden auch die neuen, spezialisierten Master-Studiengänge. So kann man an der Uni Zürich im Master Zeitgeschichte und an der ETH Cyber Security studieren. Hengartner freut sich über diese Entwicklung.

Dommann schaut auf die letzten 20 Jahre zurück: «Die Bologna-Reform fand im Zeitalter der Globalisierung und Deregulierung statt. Man dachte, Studis und Dozierende sollten besser in Europa zirkulieren können, die Grenzen verflüssigen. Und es liegt natürlich in der Tendenz einer modernen Gesellschaft, dass sowas reguliert und implementiert werden muss. Und das ist der Wiederspruch einer spätmodernen Gesellschaft.» Die Vision der Historikerin heisst hingegen «Bolognese»: Studierende sollen sich zum Spaghetti-Essen treffen und sich austauschen: «Bolognese ist all das, was nicht mit ECTS abgegolten wird. Es geht darum, die Welt auch ausserhalb dieses Leistungsschemas zu entdecken.»

Eine Frage bleibt: War es das Ganze wirklich wert? Die Grundsteine wurden vor über 20 Jahren gelegt, parallel zur grossen Universitäten-Umwälzung Bologna hat sich die Gesellschaft gewandelt. Die Reform hat aber für viel Kopfzerbrechen gesorgt und ein Mehrwert ist nicht direkt ersichtlich. Jedenfalls ist jetzt alles anders – und unumkehrbar.