Lucie Reisinger

Vierfaches Flutrisiko

Aus der Forschung — Eine ETH-Studie prognostiziert mögliche Katastrophen-Szenarien.

21. September 2022

In Pakistan herrscht seit Mitte Juni ein ungewohnt starker Monsunregen, der Flüsse anschwellen lässt, die ein Drittel des Landes überschwemmt haben, eine Fläche grösser als Neuseeland. Bilder von Menschen, welche auf Bettgestellen von reissenden Fluten mitgerissen werden, gehen um die Welt. 33 Millionen Menschen sind betroffen, über tausend sind gestorben und 500'000 Menschen sind in temporären Lagern, da die Fluten sie aus ihren Häusern vertrieben haben. 

Pakistans Klimaministerin Sherry Rehman sagt, dass dies nicht mehr der normale Monsun sei, sondern «eine Klimadystopie vor unserer Haustür». In der Öffentlichkeit werden dementsprechend folgende Fragen diskutiert: Inwiefern ist der Klimawandel verantwortlich für diese gesellschaftliche Katastrophe? Werden solche verheerenden Ereignisse in Zukunft zunehmen? 

Prognose anhand Gesellschaftsentwicklung

Ein internationales Forschungsteam unter der Führung der Professur für Wetter und Klimarisiken der ETH Zürich hat im letzten Jahr eine Studie zu Vertreibungsrisiken aufgrund von Fluten veröffentlicht. Frühere Studien haben mit ähnlichen Modellen bereits versucht, den Effekt von Fluten anhand von materiellem Verlust einzuschätzen. Die ETH-Studie ist die erste, welche sich auf die Vertreibung von Menschen aus ihren Häusern fokussiert. Das globale Vertreibungsrisiko wird anhand von Modellen abgeschätzt, welche den Klimawandel und sozioökonomische Fakten miteinbezieht. 

Die Studie zeigt, dass diese modellierten Risiken stark mit der Entwicklung der Treibhausgasemissionen und den sozioökonomischen Verhältnissen weltweit zusammenhängen. Dabei werden letztere  anhand der sogenannten SSPs (shared socioeconomic pathways) auf die Zukunft projiziert. Das sind verschiedene Szenarien davon, wie sich die Gesellschaft weltweit entwickeln wird. In der Regel wird zwischen fünf SSPs unterschieden: Von SSP1, wo sich die finanzielle Ungleichheit weltweit verkleinert, bis SSP5, wo die Ungleichheit weltweit deutlich wächst. 

Die Studie macht eine optimistische und eine pessimistische Prognose.  Wenn die globale Erwärmung unter 1,5 Grad Celsius gehalten wird und sich die Welt gemäss des SSP1 (optimistisches Szenario) zu einer gerechteren entwickelt, würden die Vertreibungsrisiken bis Ende des Jahrhunderts «nur» um 110 Prozent zunehmen – eine Verdoppelung des bisherigen Risikos. Das pessimistische Szenario geht davon aus, dass sich die soziale Schere weltweit vergrössert (SSP4) und die globale Temperatur bis Ende dieses Jahrhunderts um drei Grad Celsius ansteigt. Dann würden die Risiken um 350 Prozent zunehmen.

Prävention wird immer wichtiger

Um Risiken auf globalem Level modellieren zu können, müssen einige Vereinfachungen getroffen werden. Es wird nämlich angenommen,  dass erst Fluten, die eine Höhe über einen Meter erreichen, Menschen vertreiben. Jedoch sind gewisse Regionen resilienter und können höhere Fluten verkraften. Solche regionale Unterschiede werden in der Studie nicht berücksichtigt. Erstautorin der Studie und Doktorandin an der ETH, Pui Man Kam, sagt: «Vor allem im globalen Süden gibt es einen Datenmangel, da er von der Wissenschaftsgemeinschaft weniger beachtet wird. Dies macht es schwieriger, eine gründliche Studie durchzuführen.» 

Die Studie zeigt, dass Präventionen gegen Fluten in Zukunft immer wichtiger werden. So könnte mit verbesserter Stadtplanung schon vieles erreicht werden. Regionen mit dem grösstem Risiko für Vertreibung sind tendenziell städtischer. Kam sagt zur sozialen Relevanz der Studie: «Die Studie wirft einen Blick auf zukünftige Entwicklungen und eröffnet eine Diskussion über die Vertreibung von Menschen und deren Ursachen.»