Ein Laboratorium der Zukunftsbilder

Kulturreportage — Seit 1970 widmet sich Arles jeden Sommer der Fotografie.

21. September 2022

13.45 «Dans quelques instants nous arrivons à Arles. Attention à la marche entre le marche pied et le quai…» Arles: Die römisch geprägte Stadt, eine Stunde von Marseille entfernt, liegt am Ufer der Rhone. Seit nun über 50 Jahren beherbergt sie das international renommierte Fotografiefestival «Les Rencontres d’Arles». Gegründet haben das Festival 1970 der Fotograf Lucien Clergue, der selbst aus Arles stammt, der Schriftsteller Michel Tournier und der Historiker Jean-Maurice Rouquette – aus Liebe zur Fotografie. Jedes Jahr öffnen nun bis zu vierzig Ausstellungen von Anfang Juli bis Ende September ihre Türen.

Kaum treten wir aus dem Bahnhof ins Freie, lädt ein Schild bereits zur ersten Ausstellung in einem ehemaligen Industriegelände ein. Drei Absolvent*innen der École Nationale Supérieure de la Photographie thematisieren anhand ihrer Fotografien die Beziehung von Körpern zu ihrer Umgebung. Seit zehn Jahren kollaboriert das Festival mit der ENSP, Frankreichs grösste Fotografieschule und bietet den Studierenden so die Möglichkeit ihre Werke einem grossen Publikum zu zeigen. 

«Ein Sommer der Enthüllungen» 

Gebäude unterschiedlichster Art beherbergen die Ausstellungen: Kapellen oder Kreuzgänge aus dem 12., Industriegebäude aus dem 19. Jahrhundert und sogar der obere Stock des Supermarkts Monoprix. Wir  schlendern zur Place de la République  und betreten den Palast des Erzbistums.  «Un monde à guerir»: Über 600 Fotografien aus dem Archiv des Roten Kreuzes thematisieren die Darstellung humanitärer Hilfe von 1850 bis heute. Wie wird Leid dargestellt? Gezeigt werden berühmte Fotografien der Agentur Magnum Photos aber auch Bilder der Helfer*innen vor Ort. Die Ausstellung legt ein besonderes Augenmerk auf die Hintergründe der Bilder. Was versteckt sich hinter dem Bild? Was bleibt unsichtbar? Die Fotos stellen die Opfer und Helfer auf eine bestimmte Art und Weise dar. Die Betrachtenden stehen einem fragmentierten Ereignis gegenüber: Trotz der Unmittelbarkeit des Mediums bleibt die Fotografie ein Versuch, eine komplexere Realität zu beschreiben. «Das Sichtbare oder Unsichtbare – Ein Sommer der Enthüllungen» lautet dieses Jahr auch das Motto des Festivals. 

Abends in der «cuisine de comptoir» erzählt der Kellner zwei Festivalbesuchern aus Basel am Nachbartisch: «Vor drei Jahren kamen vor allem Besucher*innen aus Frankreich ans Festival. Jetzt ist es viel internationaler geworden, unter anderem wegen des LUMA Turms.» Jener Turm ragt seit letztem Jahr am Rande von Arles in die Höhe. Die Basler Milliardärin und Mäzenin Maja Hoffmann kaufte das Grundstück 2010 für rund zehn Milliarden Euro. Der Turm von Stararchitekt Frank Gehry ist Teil eines grossen Kulturkomplexes samt Park, Ausstellungsräumen und einer Residenz für Künstler*innen. 

Dort bietet eine grosse Halle jedes Jahr Raum für eine Ausstellung des Fotofestivals, welches Hoffmann mitfinanziert. Dieses Jahr zeigt «une avant-garde féministe», eine Ausstellung über die Konstruktion von Weiblichkeit in den 1970er Jahren. Mehr als 200 Werke ausschliesslich weiblicher Künstler*innen thematisieren Stereotypen, Sexismus und ein neues Bild der Frau. «Die Anerkennung von Fotografinnen und deren Verwendung des Mediums als Mittel der Emanzipation ist ein weiterer Schwerpunkt des Festivals», fasst Festivaldirektor Christoph Wiesner zusammen. 

Neben zeitgenössischen Künstler*innen ergänzen Retroperspektiven das Programm des Festivals. Im Espace Van Gogh, das im Stadtzentrum gelegen ist, wird etwa das Werk der Modefotografin Lee Miller beleuchtet, die später als Kriegsreporterin arbeitete. Eine weitere Ausstellung ist dem luxemburgischen Fotografen Romain Urhausen gewidmet und setzt seine Werke in Dialog mit anderen bekannten Kunstschaffenden seiner Zeit. Mit Freude lerne ich damit einen in Frankreich wenig bekannten Künstler der 50er und 60er Jahre kennen, dessen Motive vom oft humorvollen Pariser Alltag inspiriert sind.

Fotografie galt als «minderwertige» Kunst

«Wir möchten es allen Menschen ermöglichen, Bilder zu erleben», so das Motto des Festivals. Allein während der Eröffnungswoche zählte das Festival 18'600 Besucher*innen, darunter 40 Prozent internationale Gäst*innen. Während einer Woche ergänzen Filmvorführungen, Konzerte, Performances und Podiumsdiskussionen die Ausstellungen. 

Richtung Bahnhof gehend fällt mir auf, dass nicht nur die «Rencontres de Photographie d’Arles» durch ihre grossen roten Stellwände die Stadt prägen. Auch kleine unabhängige Fotograf*innen werben mit Plakaten an Hauswänden für ihre kleinen Ausstellungen. An einer Ecke kleben neun arrangierte Fotografien an einer Hauswand. Ganz Arles scheint von der Fotografie erfasst zu sein. 

Während zu Gründungszeiten des Festivals die Fotografie noch als «minderwertige» Kunst betrachtet wurde, hat sie sich nun in alle medialen und thematischen Richtungen weiterentwickelt. In Zeiten von Social Media und der immer schneller werdenden Verbreitung von Fotos und Informationen bietet ein derartiges Festival ein ruhiges Fenster für ein äusserst wichtiges und prägendes Medium. «Die Bilderfluten können den Wert der Fotografie schwächen, aber sie generieren gleichzeitig auch neue Ansätze», betont Christoph Wiesner in einem Interview gegenüber «Le Point», «Arles bleibt ein Laboratorium der Zukunftsbilder.» 

Das Medium für Veränderung

Das Festival bietet jedes Jahr Raum für neue Technologien. So auch die Ausstellung «Hantologie suburbaine», eine multimediale Installation, welche die Architektur der 60er Jahre und das Gamen mittels Metaverse und Augmented Reality präsentiert.  Das Festival versteht sich nämlich als Entschlüssler einer sich verändernden Welt. Die Fotografie sei das Medium, das Veränderungsprozesse am besten darstelle, schreiben die Veranstalter*innen auf der offiziellen Webseite. 

Die Vielfalt der Ausstellungen ist beeindruckend. Weltbekannte sowie junge Künstler*innen präsentieren ihre Werke. In dieser Hinsicht erscheinen mir die thematischen Schwerpunkte des Festivals etwas gesucht und nicht unbedingt nötig. Vielmehr bietet das Festival einen Einblick in die grosse Welt der Fotografie, ihre Geschichte, Debatten und Veränderungen.