«Der Zauber der Universitäten ist weg»
Antonio Loprieno hat als Rektor die Uni Basel «bolognisiert». Ein Gespräch über Fakten und Mythen rund um die Reform.
Herr Loprieno, wann haben Sie das letzte Mal ein Interview zur Bologna-Reform gegeben?
Das war vermutlich im Jahr 2012 für «Die Zeit». Als mich die Zeitung kontaktierte, dachte ich: «Oh Gott, die Bologna-Reform ist doch schon uralt.»
Die Medien berichten praktisch nicht mehr darüber, auch von Seiten der Uni ist Bologna scheinbar kein Thema mehr. Ist die Reform in der Schweiz nun ganz abgeschlossen?
Die Reform wurde nicht als Prozess mit festem Anfang und Ende konzipiert, sondern als kulturelle Transformation der Hochschullandschaft in Europa. Diese ist nie abgeschlossen und kann etwa mit der Reformation verglichen werden. Sie zwingt die Universitäten zur ständigen Selbstreflexion und Weiterentwicklung. Einen formalen Abschluss wird sie nie finden.
In besagtem Interview mit «Die Zeit» meinten Sie, eine perfekte Umsetzung der Reform hätte viel Zeit benötigt, die man sich nicht genommen hat. Nun dauert der Prozess trotzdem noch an. War das eilige Vorgehen eine schlechte Idee?
Das Problem war, dass die Signale, die wir als Hochschulen zu Beginn und während der Umsetzung der Reform ausgesendet haben, unterschiedlich waren. Ich kann dies anhand zweier Beispiele erläutern: Zwischen 2005 und 2010 entwickelte sich der Geist der Forschungsprofilierung, «die vermessene Universität». Unzählige Rankings und Indikatoren wurden eingeführt, was überhaupt nicht im Geiste der Bologna-Reform stand. Die zweite Entwicklung ist der noch jüngere Trend zu mehr Innovation. Das Wort kommt heutzutage in praktisch jeder dritten Zeile einer Universitätsstrategie vor. Innovation war aber nicht Teil der Weltvorstellung der Bologna-Reform.
Was aber schon immer zur Bologna-Reform gehörte, ist das leistungsorientierte Denken und die Orientierung am Arbeitsmarkt.
Mehr als zwanzig Jahre nach der Einführung der Reform kann man diese Aussage sozialwissenschaftlich analysieren. Es stimmt, dass man die Studierenden besser in den Arbeitsmarkt integrieren wollte. Mit dem angelsächsischen Modell des Bachelors und Masters hat man dafür aber das ungeeignetste akademische Modell gewählt. Denn eigentlich ist es genau nicht Ziel des Bachelors, jemanden auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Sondern: education, liberal arts, good citizenship – all diese schönen Dinge. Im Bachelor sollte man breit in die Fächer eingeführt werden, um sich dann im Master zu spezialisieren, sei es akademisch oder beruflich. Für eine Spezialisierung auf Bachelorebene, wie wir sie jetzt haben, wäre das alte System geeigneter gewesen. Stattdessen übernehmen nun die Fachhochschulen diese Aufgabe.
Sie sprechen vom angelsächsischen Modell. Können Sie das noch etwas ausführen?
Unser Modell wurde von grossen englischen Unis wie Oxford oder Cambridge adaptiert. Bei der Umsetzung haben wir aber alten Wein in neue Schläuche gegossen: Wir haben die Architektur des angelsächsischen Modells mit Bachelor und Master übernommen, die Studieninhalte wurden aber nicht angepasst.
In Ihrem 2016 erschienenen Buch «Die entzauberte Universität» schreiben Sie von einem World-Class-University-Modell, welches das angelsächsische und kontinentaleuropäische ersetzt haben soll.
Das Phänomen der World-Class-University war die Ausweitung des angelsächsischen Modells auf die Weltebene. Davon habe ich aber 2016 geschrieben. Sechs Jahre später sieht vieles wieder anders aus. Nach dem Trend zur Vermessung der Forschung und zu mehr Innovation erleben wir gerade eine dritte Transformation, die zu den Anfängen der Bologna-Reform zurückgeht. Nach der Pandemie und dem Beginn des Ukraine-Kriegs sind wir der Globalisierung und Amerikanisierung gegenüber skeptischer geworden. Stattdessen gehen hiesige Hochschulen gerne wieder Kooperationen mit anderen europäischen Hochschulen ein, um den Standort Kontinentaleuropa zu stärken.
Mit der Reform setzte man Ziele, die nicht erreicht wurden und musste dafür viel Kritik einstecken. Zum Beispiel wurde die Mobilität nicht einfacher und die Bildungsausgaben sind gestiegen. Studierende müssen nach Credits jagen und leiden unter Stress und Leistungsdruck. Ist die Kritik gerechtfertigt?
All diese Beispiele zeigen, weshalb Bologna nicht so funktioniert hat, wie wir es uns vorgestellt haben. Es sind nämlich Ziele gesetzt worden, die nicht zusammengehen, zum Beispiel Mobilität und Quantifizierung des Studiums. Wenn man Mobilität fördern will, muss man die Strukturen so flexibel, nicht so rigide wie möglich gestalten. Wenn man das Studium in Kreditpunkte aufteilt, macht man es vielleicht nachvollziehbarer, aber inkompatibler mit mehr Mobilität. Denn in Tallinn oder in Porto haben sie bestimmt nicht die gleichen Module wie hier. Es kann deshalb schwierig sein, diese hier anzurechnen.
Sie waren zehn Jahre lang Rektor der Uni Basel. Wie gingen Sie mit dieser Inkompatibilität der Ziele um?
Als ich von Amerika zurück nach Europa kam, wollte ich eigentlich dem Bachelor-Master-System entkommen. Prompt bat man mich aber um die Umsetzung der Bologna-Reform. Das habe ich dann als Zeichen des Schicksals genommen. Ich habe versucht, die Vorgaben so umzusetzen, dass möglichst wenige formale Probleme entstehen. Die Inhalte können aber nicht von oben verändert werden, sondern nur bottom-up. Sie mussten von den Fächern selbst angepasst werden.
Kann der Lehrinhalt überhaupt so klar von der Form getrennt werden? In der Germanistik sind manche Seminare zum Beispiel so vollgestopft mit Leistungsnachweisen, dass es für eine freie Diskussionskultur wenig Platz gibt.
Sie nennen mit Germanistik ein gutes Beispiel. Eine inhaltliche Implementierung der Bologna-Reform hätte hier Folgendes geheissen: Im ersten Jahr Einführung in die Literaturgeschichte, Einführung in die Literaturtheorie und so weiter. Und erst im dritten Jahr besuchen die Studierenden vielleicht Proseminare. Traditionell absolviert man in unseren Breitengraden aber Seminare schon im ersten Jahr, wenn man noch nicht alle theoretischen Grundlagen hat. Das ist der typisch kontinentaleuropäische Kontext, die Luft, die wir atmen. Eine orthodoxe Umsetzung von Bologna macht also gerade in Studiengängen wie der Germanistik keinen Sinn.
Trotzdem wenden sich die Unis immer weiter von den Humboldtschen Idealen ab und hin zu einem ökonomischen, leistungs- und arbeitsmarktorientierten Denken. Geht damit etwas verloren?
Die Verzahnung zwischen Hochschulen und Arbeitsmarkt ist nicht so stark, wie man denkt und hängt eher vom ökonomischen Kontext der jeweiligen Universität als vom Studienmodell ab. In der Schweiz findet man etwa schnell einen Job, egal ob man an einer Uni oder an einer FH war. In Portugal gibt es Taxifahrer*innen mit universitärem Master-Abschluss. Der Unterschied zwischen Uni und FH ist also graduell, nicht systemisch: Je nach Uni ist der Arbeitsmarktbezug grösser oder kleiner.
Auf jeden Fall wirkt der ökonomische Faktor auch im universitären Umfeld immer stärker. Geht bei dieser Neuorientierung etwas verloren? Etwa in Bezug auf die Idee der Bildung gegenüber jener der Ausbildung.
Ja, sicher. Die allgemeine Bildungsorientierung vermissen wir heute. Allerdings ist diese Diskussion für Geistes- und Sozialwissenschaften eine andere als für Naturwissenschaften, denn die fachlichen Kulturen sind sehr verschieden. Diejenige der Geisteswissenschaften hat zweifellos am meisten unter der Quantifizierung des Studiums gelitten, die durch Bologna herbeigeführt wurde.
Sind Sie froh darüber, noch vor Bologna studiert zu haben?
Schwierige, intime Frage… Ich bin, obwohl selbst auch Geisteswissenschaftler, nicht nur unglücklich darüber, dass die Geisteswissenschaften durch die Reform unter Druck geraten sind. Sie haben nämlich keine gesunde Einstellung zu ihrer Fachkultur entwickelt. Man hat auf fachliche Unterscheidungen bestanden, die curricular keinen Sinn machen und die man sehr schnell hätte modifizieren können. Es gibt etwa immer noch etliche verschiedene Formen von Literaturwissenschaften. Diese hätte man leicht zu einem Fach zusammenlegen können. So gäbe es Spezialisierungsmöglichkeiten im Master statt so vielen verschiedenen Fächern zu Beginn.
Heute gibt es an Universitäten eine Studienzeitbeschränkung, es wird viel Leistung gefordert, alles wird gemessen. Ist Bologna daran schuld?
Bologna ist nicht die Ursache, sondern ein Epiphänomen. Die Reform ist das Resultat von 1989, der Neugeburt Europas als dritter akademischer Macht auf Weltebene neben den USA und dem ostasiatischen Raum. Sie ist Ausdruck eines sozioökonomischen und zugleich akademischen Willens, Europa als Gesamtheit anzusehen. Nur das Resultat, also die Reform, zu kritisieren, wäre falsch. Schon seit über 20 Jahren höre ich, dass durch Bologna alles schlimmer geworden ist. Diese Form des Kulturpessimismus finde ich unproduktiv. Die Propheten des alten Testaments sagten auch schon, der erste Tempel sei viel schöner gewesen als der zweite.
Wie standen Sie denn zu den Protesten und Besetzungen von Vorlesungssälen um das Jahr 2009?
Guter Punkt… Die Rebellion 2009 kam mir damals mehr als Teil einer Theaterinszenierung vor denn als Teil einer genuinen Bewegung. Sie stellte aber die letzte Infragestellung des neuen universitären Modells dar, das heute gang und gäbe ist. Danach gab es keine Proteste mehr. Es war eigentlich der Schwanengesang des Humboldtschen Bildungsideals. Dafür hatte ich Sympathie.
Ist das Ausbleiben von Protesten auch eine direkte Folge der Bologna-Reform?
Eher eine Folge des Mythos Bologna. Denn 2009 gab es noch Leute, die das Studium vor Bologna begonnen hatten, nun sind Sie alle «bolognisiert». Es war gewissermassen das Ende der 68er, der Zeit der Studierenden als politische Körperschaft.
Mit Bologna 2020 wurde an der philosophischen Fakultät der Uni Zürich versucht, den Bachelor gegen Ende hin wieder mehr zu öffnen. Zu Beginn müssen mehr Einführungskurse besucht werden. Dafür ist man danach freier in der Auswahl von Modulen. Das Gleiche gilt für offene Mastermodelle wie den Monomaster Literatur, der auf einen spezialisierteren Bachelor folgt.
Meiner Meinung nach geht es bei Bologna darum, dass man sich zuerst breit in einem Fach informiert und dann später auf einen Teilbereich spezialisiert. Momentan beginnen die Studiengänge aber oft mit dem Kern, der Master kann dann ein wenig von allem sein. Das ist kontraintuitiv! Viel sinnvoller wäre es, einen Bachelor in Literaturwissenschaft zu machen und dann einen Master zum Beispiel in Germanistik, Italianistik oder Anglistik. Als Ägyptologe bin ich beispielsweise dagegen, dass es einen Bachelor in Ägyptologie gibt.
Man hat also einen schlechten Kompromiss geliefert.
Genau, in theoretischer Hinsicht schon.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Unis heute vor allem auf Forschung und Wettbewerb bedacht sind. Hat damit die Qualität der Lehre abgenommen?
In den ersten 15 bis 20 Jahren nach der Einführung der Reform haben die Universitäten die Lehre gegenüber der Forschung als zweitrangig behandelt. Die Unis wurden vor allem auf Basis ihrer Forschungsleistungen gemessen, denn dies lässt sich formal einfacher tun. Das hat auch mit dem Konzept der Ökonomisierung eines Studiums zu tun, das als etwas Quantifizierbares angesehen wird.
Allerdings gab es in der Zwischenzeit zwei epochale Ereignisse, welche die Lehre erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt haben: Die Pandemie, da in dieser Zeit die Lehre klar den Zusammenhalt der Universität repräsentiert hat. Und die weltpolitischen Entwicklungen in China und der Ukraine. Sie haben die Bildung eher als die Forschung ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt – indem europäische Universitäten wieder als Trägerinnen von humanistischen Werten, und nicht nur von Forschungsleistungen verstanden werden. Angesichts dieser Transformation hat sich die Lehre für die Zukunft wieder als wichtigster Bestandteil der Hochschulen positioniert.
Sie sagen, die Qualität der Forschung lasse sich einfacher messen als diejenige der Lehre. Kann man trotzdem sagen, ob die Lehre besser oder schlechter geworden ist?
Vor 20 Jahren war eine inakzeptable Qualität in der Lehre noch möglich. Heute geht dies aufgrund der Qualitätsmessungen nicht mehr. Und obwohl es noch kaum Möglichkeiten gibt, schlechte Lehre zu sanktionieren, haben viele Hochschulen Programme zur Verbesserung der akademischen Lehre entwickelt. Damit gibt es auch eine grössere Bereitschaft der Professor*innenschaft, sich darauf einzulassen.
Sie sind Mitglied des Universitätsrates der Uni Zürich. Sprechen Sie dort über Bologna?
Ich würde meine Bedeutung als Mitglied des Universitätsrat nicht unterschätzen, aber auch nicht überschätzen. Der Universitätsrat hat hauptsächlich Aufsichtsfunktionen und ist nicht da, um die Ausrichtung der Uni in operativen Aspekten zu definieren. Dies ist die Arbeit der Universitätsleitung. Doch als Universitätsrat kann man sich selbstverständlich einbringen. Ich denke aber nicht, dass die Positionierung der Universität gegenüber Bologna je ein Traktandum im Universitätsrat sein wird.
Sie erheben aber Einspruch, wenn etwas falsch läuft?
Ja, selbstverständlich. Wir haben aber eher eine Ansporn- und Kontrollfunktion, nicht aber eine definierende Funktion.
Ihr Buch heisst «Die entzauberte Universität». Wird der Zauber eines Tages zurückkehren?
Nein, der Zauber ist weg. Die Universität ist keine sakrale Institution mehr. Zauber impliziert eine scharfe Trennung zwischen profan und sakral. Dafür ist die Universität zu stark vergesellschaftet worden. Somit ist die Entzauberung aber auch ein Phänomen der Demokratisierung des Wissens, also etwas Gutes. Hoffentlich ist die Ära des Zaubers beendet.
Sie schreiben auch von einer Politisierung der Universitäten. Ist diese ein Symptom der Entzauberung?
Ja. Eine vergesellschaftete Universität bedeutet auch, dass jeder über sie und ihre Vorgänge Bescheid weiss. Damit wird sie automatisch zum Politikum. Auf der anderen Seite darf man sich als Universität nicht darüber beschweren. Diese Politisierung bedeutet nämlich eine substanzielle finanzielle Unterstützung – und wir sind auf das Geld angewiesen.
Schadet das nicht der Unabhängigkeit? Mittlerweile spenden Unternehmen wie die UBS Millionen an Uni und ETH.
Unabhängig waren die Universitäten nie – das würde bedeuten, eigenes Geld zu haben. Die Frage der Autonomie ist eine andere. Die Entlassung der Universitäten in die Autonomie war in Europa ein Parallelphänomen zu Bologna. Nach dem Soziologen Rudolf Stichweh ist Autonomie die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Finanzierungsquellen zu entscheiden. Diese Fähigkeit haben Schweizer Universitäten aber nicht – ihnen ist die staatliche Finanzierung inhärent. Autonom ist die Uni also nur in dem Sinn, dass sie ihre Führung und Organisation selbst bestimmen kann. Hier ist die Autonomie jedoch total.
Das Modell der privaten Universität ist allerdings keineswegs besser, im Gegenteil: Ich war vor Kurzem ein Jahr lang Präsident einer Privatuniversität in Deutschland. Sie wurde von einem privaten Investor aufgekauft. Was denken Sie, wie der sich nun bis ins kleinste Detail des operativen Geschäfts einmischt! Er wollte sogar bestimmen, wer Chef des Studierendenbüros wird. Als staatliche Universität ist man also in Europa generell viel besser gestellt.
Wir haben über Wettbewerbsfähigkeit, externe Erwartungen und die Veränderungen des Studierendenlebens gesprochen. Hat man da als Studi noch die nötige Musse, sich kritische Gedanken zu machen?
Die Frage muss ich an Sie zurück richten. Sie müssen sich das selbst erarbeiten. Jede Emanzipation muss von den Sich-emanzipieren-Wollenden ausgehen und nicht von den Bösen, die sie unterdrücken. Sie haben aber heute sicher weniger Spielraum, als ich es hatte. Dafür haben Sie viel mehr strukturierte Möglichkeiten, sich in die Universität als Institution prägend einzubringen – Sie sind sogar in unserem Universitätsrat vertreten! Sie müssen sich Ihren Freiraum vielleicht ein bisschen mehr erkämpfen, aber das Resultat wird nachhaltiger sein. Good luck!