«Lʼart du silence» läuft ab dem 19. Mai in den Schweizer Kinos. zVg

Aus der Not eine Tugend gemacht

Kulturspalte

9. Mai 2022

Dokumentaion — Geräuschlos tänzeln seine Hände mit flinken Gesten durch die Luft. Sein wacher Blick folgt dem Geschehen, während die zittrigen Hände sich allmählich in Schmetterlinge verwandeln. «Der Pantomime mimt einen Schmetterling. Und wird selbst zum Schmetterling», erklärt Marcel Marceau, der vor fünfzehn Jahren verstorbene Pantomime. Im Ringelhemd, mit weiß geschminktem Gesicht und einer roten Blume am zerknitterten Seidenhut, löste Marceau nach dem zweiten Weltkrieg bei seinem Publikum weltweit eine Welle fideler Faszination aus. Der Ursprung seiner Kunst blieb jedoch lange hinter der weissen Maske verborgen. Marceau wurde 1923 als Sohn einer jüdischen Familie in Strassburg geboren. Als sein Vater in Auschwitz Opfer des Naziregimes wurde, schloss er sich der französischen Résistance an und half jüdischen Kindern bei ihrer Flucht über die Grenze in die Schweiz. Er nutzte die Stille zum Überleben und lehrte die Kinder, sich bei Gefahr mit Gesten und Mimen zu verständigen. Nach dem Krieg schuf Marceau aus seiner lebensrettenden Technik eine einzigartige Kunstform, die in ihren ernsten Momenten immer auch das Schicksal seiner Familie reflektierte.

Die neue Dokumentation «L’art du silence» des Schweizer Filmemachers Maurizius Staerkle Drux bringt das facettenreiche Leben Marceaus mit einem zeitgenössischen Blick auf seine Kunst in die Kinosäle. Staerkle Drux liess sich für den Film von der eigenen Familiengeschichte inspirieren. Den Künstler kennt er aus Erzählungen seines gehörlosen Vaters, der selbst Pantomime ist: «Mein Leben glich manchmal einer Stummfilmkulisse. Als Erwachsener ist mir bewusst geworden, dass Marceaus Pantomimennummern mehr als Spässe sind, die Kinder zum Lachen bringen», so Staerkle Drux. Er hat für «L’art du silence» zahlreiche Archivmaterialien verarbeitet und Freund*innen und Nachfahr*innen Marceaus auf ihrem Weg, das künstlerische Erbe des Pantomimen weiterzuführen, begleitet. Für die zeitgenössische Sicht auf Marceau sind vor allem die Einblicke in das heutige Wirken seiner Familie und eines ehemaligen Schülers bedeutend.

Trotz biografischer Unterschiede zwischen den Protagonist*innen lässt sich beobachten, dass sie alle mehrmals in ihrem Leben neuen Mut aus der Pantomime schöpfen konnten. Staerkle Drux’ Filmmontage ist es gelungen, die zahlreichen Aufnahmen Marceaus und der lebenden Protagonist*innen in einen Erzählstrang zusammenzuführen, im Hintergrund stets die Frage nach dem «wahren» Marceau. «Tatsächlich bleibt mein Vater ein Mysterium für mich», so eine der Töchter Marceaus. Mit dieser Erkenntnis ist sie nicht allein. So genau scheint niemand, der Marceau persönlich kennengelernt hat, zwischen seinem Bühnen-Ich und seiner eigenen Identität unterscheiden zu können. Und genau dieses Mysterium versucht «L’art du silence» zu ergründen. Wer war Marcel Marceau wirklich? Der Film erhascht sich in dieser Frage einen Blick hinter die Maske des weltberühmten Pantomimen, sodass man bei manchen Szenen glaubt, Marceaus Identität von der Pantomime trennen zu können. Doch es dauert nicht lange, bis dieser Eindruck wieder verblasst. Auf lange Sicht mag die Person um den Pantomimen somit unweigerlich immer mehr in die Ferne rücken. Sicher bleibt dafür, dass das künstlerische Erbe Marceaus den Menschen geblieben ist und noch immer grossen Einfluss ausübt.