Geht der Luftalarm los, packt Vladyslav seinen Hamster und seinen Hund, und sucht Schutz im Keller.

Studieren im Luftschutzkeller

Odessa wird von russischen Raketen beschossen. Derweil geht das Studium weiter. Ein Journalismus-Student berichtet.

8. Mai 2022

Als der Krieg ausbrach, schliefen in Odessa die meisten noch und erfuhren vom Beginn der Gewalt erst durch Anrufe von Freund*innen oder Verwandten. Ich bin da keine Ausnahme. Der Anruf eines Freundes riss mich aus dem Schlaf. Er sagte nur: «Der Krieg hat begonnen!» Ich sprang sofort aus dem Bett und rannte zu meinen Eltern, aber sie waren schon wach und hatten bereits aus den Nachrichten vom Krieg erfahren. Wir waren alle schockiert. Nach dem Frühstück ging ich gleich mit einem Freund zum nächsten Lebensmittelgeschäft, um Trinkwasser und lang haltbare Lebensmittel zu kaufen. Auf dem Weg zum Laden sahen wir bereits viele Menschen mit Koffern die Strassen hinunter rennen. Einige warfen Dinge in ihre Autos, andere trugen schwere Taschen voller Lebensmitteln. Als wir im Laden ankamen, waren einige Regale schon leer. Wir standen über eine Stunde lang in der Schlange zur Kasse.

Viele Bewohner*innen von Odessa meldeten sich noch am gleichen Tag freiwillig zur Verteidigung der Stadt. Andere machten sich sofort daran, im Krankenhaus Blut zu spenden, Tarnnetze zu weben und Barrikaden zur Stadtverteidigung zu bauen. Die Ukrainer*innen waren vom ersten Tag an so vereint wie nie zuvor. Alle helfen grossherzig mit und jede*r tut was er*sie kann.

Meine Klassenkamerad*innen und Freund*-innen leben in den verschiedensten Regionen der Ukraine, aber es gibt keine Person, die von diesem Krieg nicht betroffen ist. Es ist für mich schwierig, es einen «Krieg» zu nennen, weil es eigentlich ein echter Völkermord an den Ukrainer*innen ist. Es wurden schon so viele Zivilist*innen getötet! Mehr als 20,000 allein in Mariupol. So viele wurden vergewaltigt und verstümmelt, sogar Kinder! Man will sich kaum vorstellen, wie viele weitere Gräueltaten nach dem Sieg der Ukraine an die Öffentlichkeit gelangen werden. Denn es gibt Städte und Dörfer, die immer noch unter russischer Besatzung sind. Googelt die Worte Butscha, Irpin, Mariupol, Charkiw. Sie stehen nur für einen Teil der Katastrophe, die der russische Angriff auf meine Heimat verursacht hat.

Die Veranstaltungen meiner Uni finden jetzt online statt. Für mein Journalismus-Studium muss ich als Hausaufgabe mehrmals pro Woche Videos drehen. Aber es ist momentan gefährlich auf den Stras-sen und während des Krieges ist es sowieso verboten, Videos und Fotos zu machen. Die Schwierigkeit besteht also darin, Ideen für ein Video zu finden, die sich zuhause realisieren lassen.

Während dem Unterricht gilt die Regel: Heulen die Sirenen los, weil ein Luftalarm ausgelöst wurde, werden die Lektionen sofort abgebrochen und alle Studierenden bringen sich in Sicherheit. Jetzt haben auch alle Ukrainer*innen immer eine Notfalltasche mit den wichtigsten Gegenständen bereit, um sich sofort in den Luftschutzkeller begeben zu können. Ich werde mich für immer an den ersten Abstieg in den Keller erinnern. Wie ich mich schnell anzog, meinen Hamster und meinen Hund packte und mich mit meinen Eltern so schnell wie möglich im Keller in Sicherheit brachte.

«Ich schaue aus dem Fenster, und sehe Raketen.»

Seit Beginn des Krieges habe ich es mir zur Hauptaufgabe gemacht, aktiv an der medialen Information über den Krieg zu arbeiten. Ich will die wahren Geschehnisse beleuchten und meine Gedanken in hinaus die Welt tragen. Glücklicherweise wurde ich über Instagram von einem Journalisten einer tschechischen Zeitung entdeckt. Für die Zeitung schreibe ich nun ein Kriegstagebuch aus Odessa. Und über Freund*innen wurde ich von der Redaktion dieser Studierendenzeitung, die Sie gerade lesen, angefragt. Ich freue mich über die Möglichkeit, den Studierenden in Zürich meine Gedanken zu vermitteln.

Ich hätte mir nie vorstellen können, Raketen nicht nur als Ausstellungsobjekt in Museen, sondern auch vor meinen Fenstern zu sehen. Auch dieses Bild werde ich nie vergessen. Ich schaue abends aus dem Fenster, und sehe Raketen, die eine nach der anderen aus dem Himmel fallen, sehr nahe. Es ist mir oft passiert, dass ich nicht zu Hause war, als Raketenangriffe stattfanden. Ich musste jeweils alles stehen und liegen lassen und zur nächstgelegenen Deckung rennen. Es ist schrecklich: Du rennst, der Luftalarm ertönt, du hörst Explosionen. Doch fast scheint es so, als würde man sich an alles gewöhnen. Mittlerweile reagieren die Einwohner*innen von Odessa beim Ertönen der Sirenen, die den Beginn eines Luftangriffs ankündigen, schnell und – man könnte sagen – professionell. Denn nach zwei Monaten Krieg weiss jede*r genau, was zu tun ist, wenn uns der Angriff trifft.

«Ich glaube an eine bessere Zukunft. Ich bin mir sicher, dass wir gewinnen werden und bin stolz darauf, Ukrainer zu sein!»

Wir haben in der Ukraine in den letzten zehn Jahren so viele Krisen durchlaufen. Seit 2014 leben die Ukrainer*innen unter ständiger Anspannung: Die Revolution der Würde (Maidan), die Annexion der Halbinsel Krim, der Krieg im Donbass, COVID-19 – und nun dieser Krieg in der gesamten Ukraine.

Noch zu den neuesten Nachrichten aus Odessa: Heute (23.04.2022, ein Tag vor Ostern) haben die russischen Truppen sieben Raketen auf Odessa abgefeuert, auf meine liebe Heimatstadt Odessa! Zwei davon trafen ein Wohnhochhaus: Acht Menschen wurden getötet, darunter ein Mädchen, das erst drei Monate alt war. 18 Menschen wurden verletzt.

Es ist schrecklich zu sehen, dass die Ukrainer*-innen unter der Verrücktheit des Nachbarlandes leiden müssen. Aber ich glaube an eine bessere Zukunft. Ich bin mir sicher, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird und bin stolz darauf, Ukrainer zu sein! Ich liebe meine Heimat und alle Ukrainer*innen! Ich danke allen Ländern für die Unterstützung der Ukraine und der Ukrainer*innen! Die Ukraine braucht jetzt militärische Unterstützung, um die russische Armee schnell zu besiegen. Wir kämpfen nicht nur für unsere Zukunft, sondern auch für ganz Europa und die Welt!

Es lebe die Ukraine!

(Aus dem Ukrainischen: Diana Schenkel)

Vladyslav Vigel (20) studiert im dritten Jahr an der Fakultät für Journalismus, Werbung und Verlagswesen der Universität Odessa. Seit Beginn des Krieges hat er seine Heimatstadt nicht verlassen. Er berichtet auf Instagram und in einer tschechischen Zeitung über den Krieg.