Anastasia, Lidiia und Kseniia mussten aus der Ukraine fliehen und studieren neu an der Uni Zürich. Lucie Reisinger

Mit den Gedanken in der Ukraine

Die Uni Zürich hat rund hundert Studierende aus der Ukraine aufgenommen. Wer sie sind und wie sie ihren neuen Alltag erleben.

8. Mai 2022

Es ist ein sonniger Frühlingstag Mitte April, als ich Lidiia Moshenska (21) vor dem Sozialarchiv am Stadelhofen treffe. Dort arbeitet sie seit einigen Tagen mit einem Pensum von 30 Prozent und sortiert im Keller Archivmaterial. Den Job hat ihr ein Studienberater der Uni vermittelt. Denn Lidiia ist aus der Ukraine geflüchtet. Sie lebte mit ihrer Mutter in Charkiw – nur wenige Blocks vom Verwaltungsgebäude im Stadtzentrum entfernt, das am 1. März bombardiert wurde. «Alle Fenster und Wände zitterten», erzählt Lidiia, «das war der Moment, an dem wir uns zur Flucht entschieden.» In einer 19-stündigen Zugfahrt reisten sie und ihre Mutter nach Lwiw an die polnische Grenze. Dort trafen sie zwei Freiwillige einer protestantischen Kirche aus Wald ZH, die sie im Auto nach Zürich brachten.

Nun hat Lidiia ein Gaststudium an der Uni Zürich begonnen. Parallel dazu verfolgt sie weiterhin Online-Kurse ihrer Heimuniversität in Charkiw. Zusätzlich leistet sie Freiwilligenarbeit für eine ukrainische NGO. Mit ihren voll ausgelasteten Tagen ist Lidiia nicht allein: Auch die beiden Gaststudentinnen Anastasia und Kseniia überladen sich mit Arbeit. Anastasia Shpironok (18) koordiniert über die sozialen Medien ein Hostel in Lwiw, in dem Geflüchtete aus dem Donbass und anderen östlichen Regionen der Ukraine untergebracht werden. Sie hilft auch mit, Geld für Geflüchtete und das ukrainische Militär zu sammeln. Auf ihrem Handy zeigt sie die mehreren Dutzend Telegram-Chats, in denen sie aktiv ist. «Ich unternehme gerne viele Dinge, denn so halte ich negative Gedanken über den Krieg von mir fern», sagt Anastasia. Ähnlich geht es Kseniia Oleksyn (19), die aus der Westukraine stammt und sich in Zürich vor allem mit dem Studium «abzulenken» versucht. Sie hat in Kiew International Business studiert und ist jetzt an der Uni Zürich an der politikwissenschaftlichen Fakultät immatrikuliert: «Trotz den Umständen versuche ich immer, alle Hausaufgaben zu erledigen – für meine Heimuni und für die Uni Zürich», so Kseniia. Alle drei Gaststudentinnen wollen diesen Sommer sowohl Online-Prüfungen ihrer Heimuniversitäten absolvieren als auch die Leistungsnachweise an der Universität Zürich ablegen.

«Ich möchte den Leuten hier vom Krieg erzählen»

Einen Alltag aufrechtzuerhalten scheint Lidiia, Anastasia und Kseniia viel zu bedeuten. Ihnen sei es wichtig, sich an der Uni Zürich zu integrieren, wenngleich sie per Telefon und Messengerdiensten in ständigem Kontakt mit zurückgebliebenen Verwandten in der Ukraine stehen. Lidiias Vater und ihr 28-jähriger Bruder sind nach wie vor in Charkiw, Anastasias Vater dient im Militär und Kseniia hat sowohl ihre Eltern als auch ihren 13-jährigen Bruder zurückgelassen. «Während der ersten paar Wochen nach meiner Flucht war ich physisch in Zürich, aber geistig in der Ukraine», erinnert sich Lidiia. Dann habe sie sich dazu entschieden, aktiv zu werden. Es helfe niemandem, wenn sie hier nur rumsitze: «Später wird es eine Zeit für Trauer geben», sagt sie.

Nur Kseniia hat sich schon vor der Flucht über Universitäten im Ausland informiert. «Die Universität Zürich habe ich ausgewählt, weil ich online die umfassendsten Informationen über den Studienprozess fand und die Bedingungen für die besten hielt.» Kseniia lernt schon seit sie sechs Jahre alt ist, Deutsch, und ihren Master habe sie schon immer in einem deutschsprachigen Land machen wollen. Nun sei sie halt früher als geplant hier gelandet. Lidiia gelangte in die Schweiz, weil sie um keinen Preis nach Deutschland wollte, da die deutschen Politiker*innen zu sehr mit Russland verbandelt seien. Von der Schweiz habe sie nur gewusst, dass das Land neutral und nicht Teil der NATO sei. Mittlerweile sei ihr zwar bewusst, dass es auch hier Konzerne gebe, die mit Russland Geschäfte machen. Aber die Solidarität der Zivilbevölkerung sei riesig, sagt Lidiia: «Es gibt hier mehr Ukraine-Flaggen als Schweizerfahnen!»

Wie es für die ukrainischen Student*innen an der Universität Zürich nach dem Gaststudium weitergeht, steht in den Sternen. Über Nacht sind Kseniia, Anastasia und Lidiia in die Schweiz geraten, mitten in einen Uni-Alltag mit ungewissem Ausgang. Von ihren neuen Mitstudierenden werden sie häufig nach dem Krieg gefragt. Doch die drei finden das nicht unangenehm, sie schätzen es sogar: «Ich möchte den Leuten hier vom Krieg erzählen, aber auch über die Politik, Kultur, Tradition und Sprache der Ukraine sprechen», erklärt Kseniia.

Die drei Gaststudentinnen sehen sich auch als Botschafterinnen ihres Landes. «Es ist Teil meiner Mission, den Menschen hier über den Krieg in der Ukraine zu erzählen», meint Lidiia. Der Angriff Russlands auf ihr Land solle nicht so schnell in Vergessenheit geraten, wie es häufig bei Kriegsgeschehen im Ausland der Fall sei. Die Liebe für das Heimatland ist auch in Kseniias Aussagen deutlich spürbar: «Am Ende muss die Gerechtigkeit gewinnen», sagt sie zuversichtlich. Und sie glaubt, der Krieg werde der Ukraine dazu verhelfen, ein neues nationales Verständnis entwickeln zu können – so tragisch die Umstände auch seien.

Das Gaststudium an der Uni Zürich

Gaststudierende aus der Ukraine können alle Kurse der jeweiligen Fakultäten besuchen. Sie erhalten dadurch die Möglichkeit, an der Uni

Zürich zu studieren, sind jedoch nicht als reguläre Studierende immatrikuliert. Sie können im Gaststudium zwar Credits erwerben, aber nicht abschliessen. Zugelassen sind jedoch nur die Ukrainer*-innen, die in ihrer Heimat schon studiert haben. Sie können sich auch regulär imma-trikulieren, sofern sie bereits zwei Jahre studiert haben und Deutsch auf Niveau C1 beherrschen.

Wenn sie noch nicht zwei Jahre in der Ukraine studiert haben, können sie die fehlenden Credits auch im Rahmen eines Gaststudiums nachholen und Deutschkurse besuchen. Geflüchtete, die noch kein Studium angefangen haben, müssen für ein reguläres Studium an der Uni Zürich eine Aufnahmeprüfung ablegen. Studiengebühren müssen die ukrainischen Geflüchteten keine bezahlen und sie erhalten eine einmalige Starthilfe von 600 Franken. Auch ist die Uni bei fehlenden Unterlagen kulant. Das Sprachenzentrum von Uni Zürich und ETH bietet zudem kostenlose Deutschkurse und Deutsch-Lernberatung an und die Universität setzt die Gaststudierenden mit «student buddies» in Verbindung. Für den Sommer sind Intensivsprachkurse geplant. Einige Institute vermitteln den Studierenden auch Gastfamilien.