«Die Zeit läuft anders im Krieg»
Von geplatzten Träumen, Hoffnung und Stolz. Essay einer 19-jährigen Studentin aus Lwiw.
Als Studierende*r glaubst du, ein langes Leben vor dir zu haben. «Ich kann all die Dinge tun, die ich noch nie getan habe, Orte bereisen, an denen ich nie war. Ich werde ein Auto kaufen, einen Hund adoptieren, ein Buch schreiben. Ich werde meinen Abschluss machen, Deutsch lernen, Französisch und Spanisch.» So habe ich früher gedacht. Jetzt weiss ich nicht mehr, ob dies je der Fall sein wird. Der Krieg ist in mein Land gekommen. Und die Sache ist, es begann schon vor langer Zeit: nicht vor acht Jahren, nicht vor zwei Monaten, als der grosse Angriffskrieg startete. Der Kampf, eine eigene Nation und ein unabhängiges Land zu sein, dauert bereits hunderte von Jahren an. Unsere Leute wurden festgenommen und umgebracht für die Idee der ukrainischen Unabhängigkeit, unsere Schriftsteller*innen wegen ihrer Werke und Meinungen erschossen und so viel mehr. Und während Jahren wurden wir fälschlich zur selben Nation gezählt wie die, aus der die Angreifer kommen, die in unser Land einmarschierten.
Sind wir das? Ich als Ukrainerin würde sagen: nein. Wir hatten schon immer andere Anschauungen: Wir haben die gegenteilige Einstellung zu unserem Land und seinen Leuten. Und endlich sieht das ein Grossteil der Welt. Die Ukraine ist zu einem Symbol für Frieden und Mut geworden. Wir können Fakten in Geschichtsbüchern suchen, aber wir können nicht die Gefühle der Menschen in ihren Herzen und Seelen lesen. Keine Worte können sie ganz erfassen. Vermutlich werde auch ich unsere Gefühle nicht vollkommen vermitteln können. Wie kann man das Gefühl erklären, wenn die angreifende Armee Bomben abwirft, weniger als einen Kilometer von deinem Zuhause entfernt, und du weisst, deine Freund*innen sind dort? Wie nennt man das Gefühl, wenn du lange nicht von einem Kollegen oder einer Kollegin gehört hast und du weisst, sie ist in einem besetzten Gebiet, wo Menschen verletzt, vergewaltigt, grundlos getötet werden, und – endlich – ruft sie dich an? Das sind Geschichten, die wir bis zum Tod im Herzen tragen. Wir werden diese Ereignisse niemals vergessen und niemand wird vergessen werden.
Angst, Erschöpfung und Dankbarkeit
Als 19-jährige Studentin in der Ukraine – wie fühlte ich mich? Voller Angst. Ich bin voller Angst um meine Familie, Freund*innen und Kolleg*innen, voller Angst um mein Land und die Welt. Ich bin müde von dieser ganzen Unsicherheit. Müde, die Situation nicht beinflussen zu können, weil ich nichts tun kann, um den Krieg zu stoppen. Ich habe nicht die Macht, das allein zu tun. Und alles, was ich tue – Freiwilligenarbeit, mein Job, das Studium – scheint so wenig zu sein; auch wenn es das nicht ist.
Ich bin stolz auf unseren Präsidenten. Stolz auf die ganze Nation. Dankbar bin ich für die Unterstützung der Welt und die Hilfe. Dankbar, dass wir nicht alleine sind in diesem Kampf und dass wir so mächtige Verbündete haben. Und ich bin inspiriert von unserem furchtlosen Volk. Es ist ein überwältigendes Gefühl zu sehen, wie diese Menschen Unglaubliches vollbringen: Unsere Freiwilligen finden wirklich alles, was wir brauchen, unsere Menschen fahren Nächte und Tage ohne Schlaf, um ihre Familie und Freund*innen an einen sicheren Ort zu bringen; Männer und Frauen kämpfen für Freiheit und Frieden. Es gibt so viele Geschichten zu hören und lesen und viele müssen erst noch erzählt werden.
Tausende Menschen mussten von zuhause flüchten und das Land verlassen. Viele haben schon Anstellungen gefunden, Schulen und Universitäten. Aber was ist mit den Studierenden in der Ukraine? Wir sind hier und versuchen Studium, Arbeit und Sorgen zu vereinbaren. Studierende lernen in Luftschutzbunkern, in der U-Bahn oder im Gang – begleitet vom Heulen der Sirenen, wenn der Alarm losgeht.
Es ist hart, das Gefühl zu beschreiben, wenn du im Onlineseminar siehst, dass dein Kollege die Fragen aus dem Luftschutzbunker beantwortet. Oder wenn du das müde Gesicht deiner Professorin siehst, wenn sie wegen der Bombenalarme die ganze Nacht nicht geschlafen hat. Aber wir halten durch, muntern einander auf. Wir haben viel Arbeit vor uns, denn wir sind die Zukunft der Ukraine. Es ist wie in einem surrealistischen Film. Gestern hast du dir in deinem Wohnheim überlegt, welches Poster an die Wand gehört und was für ein Geschenk du deiner Mitbewohnerin kaufen sollst. Aber warte, es war nicht gestern. Es war vor zwei Monaten. Die Zeit läuft anders im Krieg. Du merkst nicht, wie deine Vorlesung vergeht, wie viele Stunden du die Nachrichten gelesen hast oder vor wie vielen Tagen du dein Zuhause verlassen hast, um einen sicheren Ort zu finden. Es ist wie ein Alptraum und bald musst du aufwachen.
Ich weiss, dass viele Menschen in der Ukraine und ausserhalb des Landes ein Gefühl haben, das man «Überlebensschuld-Syndrom» nennt. Ich wünschte nur, jemand würde diesen Leuten sagen, dass es nicht schlimm ist, wenn man sich manchmal eine Tasse Kaffee kocht und eine Comedy-Show ansieht, um sich von der Realität des Krieges abzulenken. Es ist in Ordnung, wenn man weinen oder lachen möchte. Es ist in Ordnung, wenn man ein Buch aufschlagen will, anstatt den ganzen Tag Nachrichten zu lesen. Mach dir deswegen keine Vorwürfe. Du bist nicht allein und kannst dir Unterstützung holen, wenn du sie brauchst.
Die Ukraine ist so geeint wie nie zuvor
Doch es gibt auch Licht in der Dunkelheit. Das Licht sind die Menschen und ihre Taten. In der Ukraine sind die Menschen voller Hoffnung. Wir machen weiter mit Arbeit und Studium, um unser Land jeden Tag besser zu machen. Wir unterstützen einander von überall auf der Welt. Ich beobachte, wie meine Nation eine starke, einflussreiche, mächtige Familie wird. Und wir werden glücklich sein und in einem gedeihenden Land leben. Wie traurig, dass der Krieg beginnen musste, damit die Menschen ihr Mutterland und dessen Integrität und Unabhängigkeit zu schätzen lernten. Und auch die Freiheit, unsere Leben so zu leben, wie wir wollen, zu denken, wie wir wollen, und zu sagen, was in unseren Köpfen und Herzen ist – und nicht, was jemand für uns entscheidet. Doch jetzt sind wir so einig wie nie zuvor. Jede*r von uns hat etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt.
Ich will dich auffordern, deine Vorhaben nicht aufzuschieben. Willst du freiwillige Arbeit leisten? Tu es. Willst du ein Buch schreiben? Dann pack es an. Niemand weiss, was morgen geschieht. Deshalb sollten wir studieren, arbeiten, lieben, unser Leben geniessen und glauben, dass das Beste erst noch kommt. Vergeude nicht die Zeit, in der du ein glückliches Leben führen kannst. Denn auch wir vergeuden unsere Zeit nicht. Wir kämpfen für die Integrität und das Wohlergehen unseres Landes.
Es lebe die Ukraine!
(Aus dem Englischen: Anahí Frank)
Karyna Storchak (19) hat vor dem Krieg in Kiew gelebt. Sie studiert an der dortigen Universität International Economic Relations. Sie floh mit einem Teil ihrer Familie bei Kriegsbeginn nach Lwiw.