«Wie ein Traum, den du immer vor dir hergeschoben hast»

Zwei ältere Studierende erzählen.

6. Mai 2022

Heidi Tacier, 78 Jahre

«Es ist für mich ein riesiges Glück, dass ich in meinem Alter noch einmal an der Uni studieren kann. Ursprünglich habe ich an der Universität Zürich Medizin studiert und promoviert. Anschliessend habe ich an der Stanford University geforscht, zwei Kinder bekommen und eine Praxis für Pädiatrie und Allergologie in Zürich-Höngg aufgemacht, die ich 31 Jahre lang führte. Berufsbegleitend habe ich 2001 einen ‹Master of Applied Ethics› an der Uni gemacht. Eine Reise durch den Sudan führte mich ins Museum von Kerma, wo ich das Glück hatte, den Schweizer Archäologen Charles Bonnet beim Errichten der wieder restaurierten schwarzen Pharaonen anzutreffen. Wegen meiner unkomplizierten Art zu reisen und Land und Leute kennenzulernen empfahl man mir dort, Ethnologie zu studieren. Das nahm ich mir zu Herzen und noch während meiner ärztlichen Tätigkeit schloss ich 2012 den Bachelor ab.

Danach habe ich nicht mehr gearbeitet und für meine Masterarbeit zur Kunstgeschichte Ostasiens in Archiven geforscht. Diese Arbeit hat mich so fasziniert, dass ich mich danach weiter mit dem Bereich befasst habe und 2019 meine Dissertation zum Thema: ‹Das Museum Rietberg und Elsy Leuzinger – vom Sehen und Wissen› publizierte. Elsy Leuzingers Feldforschung bei einer kaum bekannten kleinen Ethnie in Nigeria 1955 wurde bisher nie ausführlich dokumentiert. Nachdem mir zahlreiche Bilddokumente aus dem Nachlass ihrer Begleiterin an dieser Forschung zugefallen waren, möchte ich diese historischen Dokumente und deren Hintergrundgeschichte nun weiter aufarbeiten. Es drängt mich, dass die Arbeit der beiden Zürcherinnen dokumentiert und öffentlich zugänglich gemacht wird.

Um weiter VPN-Zugang zu den Datenbanken der Uni zu haben, musste ich mich für ein – nun viertes – Studium immatrikulieren: Geschichte und Kunstgeschichte. Da hat es mich wieder gepackt. Das Geschichtsstudium gefällt mir aus-serordentlich und ich lerne wieder so viel! Insbesondere über die Mikrogeschichte, die globale Vernetzung der Welt und die Archivarbeit.

Es ist eine ähnliche Arbeitsweise wie als Ärztin: untersuchen, Symptome erkennen und Befunde festlegen, Synthese machen und beurteilen. Mein Primärziel ist nicht, das Studium weiterzuführen, sondern meine Arbeit über Elsy Leuzinger zu beenden. Das Studieren mit jungen Erwachsenen bereichert mich weiterhin. Manchmal werde ich ein bisschen schräg beäugt oder sehe, wie andere tuscheln, wenn ich etwas sage; dann denk ich mir: ‹Jaja…› Das ist mir egal. Die jungen Leute haben schliesslich so viel zu bieten!»

Hans Ruedi Spillmann, 65 Jahre

«Ich studiere Kunstgeschichte im Hauptfach und Geschichte der Neuzeit im Nebenfach und bin aktuell im siebten Semester. Ursprünglich bin ich Bauingenieur und habe in einem Bauunternehmen gearbeitet. Danach war ich einige Jahre als Berater für gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit unterwegs, bevor ich viele Jahre im geschlossenen Justizvollzug arbeitete. Seit zehn Jahren bin ich in der beruflichen Erwachsenenbildung an höheren Fachschulen auch im Bereich Recht tätig. Ich mache das Studium berufsbegleitend. Es ist wie ein Traum, den du immer vor dir hergeschoben hast. Kunstgeschichte hat mich schon immer interessiert und jetzt kann ich das studieren. Das empfinde ich als Privileg. Ursprünglich hätte ich mich gerne auf Schweizer Geschichte fokussiert, doch das gibt es seit drei Jahren leider nicht mehr als eigene Studienrichtung. Gerade jetzt im Grundlagenseminar finde ich die Geschichtstheorien- und Modelle spannend. Der Abschluss ist mir mehr oder weniger egal (im Vergleich zu euch jungen Leuten). Ich werde einen machen, aber vor allem der Weg ist mir wichtig. Ich will gute Seminare besuchen können!

Der Umgang mit jungen Leuten ist mir nicht fremd, da ich diese ja auch selber unterrichte. Ich erlebe, dass manche übermässigen Respekt haben. Ich werde gesiezt, obwohl ich das nicht will. Ich habe auch schon erlebt, dass Studierende auf mich zukommen und mich um eine Zweitmeinung bitten. Mir ist es ein Anliegen, dass ich jungen Studierenden nicht den Platz wegnehme. Ich habe mich vor dem Studium erkundigt und erfahren, dass das Uni-System die paar älteren Studierenden locker schluckt. Einmal bin ich jedoch von einem Dozenten aufgefordert worden, mich für ein Seminar wieder abzumelden, weil ein junger Student die Punkte brauchte. Zuerst fand ich es etwas speziell, dass man das von mir verlangt. Ich habe es aber gemacht und verstehe es rückblickend. Die anderen in meinem Alter lerne ich kennen, weil sie auch langsamer unterwegs sind und man schon auffällt.» Früher musste man mehr lesen und man hat mehr Bücher geschleppt. Das ist jetzt ganz anders. Ich schätze es, nur mit dem Laptop und einem zweiten Bildschirm unterwegs zu sein.»